Die Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre haben sich vor allem auf dem Speiseplan vieler Familien widergespiegelt. In unserer kleinen Serie „Nachkriegsküche“ berichten Menschen aus Bremen, was damals bei ihnen auf den Tisch kam – und was nicht.
Der Pflaumenbaum im Hof von Familie Scholz war es, der Werner von Tungeln über sein Heimweh hinweggetröstet hat. Anfang der 1940er-Jahre war das. Damals war er Grundschüler und von seinen Eltern aus Bremen ins sicherere Sachsen verschickt worden. Zunächst – am Bahnhof – überwog beim Abschied von der Mutter und der kleinen Schwester noch die Freude, denn er hatte eine üppige Wegzehrung in Form von dicken Butterbroten eingepackt bekommen. Als ihm dann mehrere Hundert Kilometer entfernt in Elstra langsam bewusst wurde, welche Distanz ihn fortan von seiner Familie trennte, überkam ihn ein unerträgliches Heimweh, erinnert sich der 88-Jährige.
„Am ersten Tag habe ich nur geheult“, sagt er. Bis ihn seine Pflegemutter schließlich auf dem Arm hinaus zum Pflaumenbaum trug. „Die Früchte waren unglaublich groß, süß und saftig – da beruhigte ich mich langsam“, erzählt der Schwachhauser. „Nach einigen Tagen konnte ich dann sogar schon sächseln.“

Anfang der 1940er-Jahre wurde Werner von Tungeln ins sichere Sachsen, hier 1944, verschickt. Nach Kriegsende ging es für ihn zurück nach Norddeutschland.
Von Bremen-Walle ins sichere Sachsen
Von 1936 bis zu seiner Verschickung nach Sachsen war Werner von Tungeln ein Waller Jung. Eingeschult wurde er in der Michaelisschule in Utbremen, gewohnt hat er in der Nordstraße – gleich über einem Drogeriemarkt. An die Küche in der elterlichen Wohnung erinnert sich der Architekt noch besonders gut. Groß und gefliest war sie, und an einer Stelle ging es scharf um die Ecke. Die habe er einmal beim Laufen zu eng genommen und sich mächtig den Kopf angeschlagen, erinnert sich von Tungeln. „Als mein Vater abends heimkam, brachte er mir einen Pinguin aus Schokolade zum Trost wegen meiner Beule mit – ich konnte mein Glück überhaupt nicht fassen.“
Weit weniger gern denkt von Tungeln an die Orangen zurück, die seine Mutter eines Tages mitgebrachte und in der Küche deponiert hatte – eine unglaubliche Rarität. „Ich nahm mir eine, pellte sie und stellte enttäuscht fest, dass sie von innen schlecht war“, erzählt er. Er versuchte sein Glück bei der nächsten, vergebens. Am Ende hatte er alle Orangen im Mülleimer entsorgt und berichtete seiner Mutter später enttäuscht von den verdorbenen Früchten, die innen nicht orange, sondern leuchtend rot gewesen seien. „Da habe ich mächtig Ärger bekommen, als meine Mutter all die Blutorangen im Mülleimer sah – aber so etwas kannten wir als Kinder doch gar nicht.“
Neue kulinarische Erfahrungen: Werner von Tungelns preisgekrönte Brennnesselsuppe
Später, in Sachsen, warteten ebenfalls neue kulinarische Erfahrungen auf von Tungeln. Von denen schätzte er besonders die Plinsen, die Frau Scholz häufig zubereitete. Dabei handelte es sich um kleine Eierkuchen, die in einer eigens dafür angefertigten Pfanne gebacken wurden. Weit weniger angetan war der Pflegesohn aus Bremen vom Freitagsklassiker der Familie Scholz. Die Beschaffung der Hauptzutat gehörte bald zu von Tungelns festen Aufgaben im Haushalt. „Ich musste einmal in der Woche in der Gastwirtschaft Dunkelbier besorgen“, erzählt er. Daraus habe seine Pflegemutter dann Dunkelbiersuppe gekocht. „Mit Brotresten als Einlage – das mochte ich nicht besonders.“
Aus dem Haus an der Langen Gasse in Elstra ging es für Werner von Tungeln nach Kriegsende wieder zurück nach Norddeutschland. Allerdings nicht nach Bremen, denn das Haus an der Nordstraße gab es nicht mehr. Stattdessen kam er mit Mutter und Schwester auf einem Bauernhof in Resthausen nahe Cloppenburg unter – bei Familie Wulfers. Die Bäuerin verstand sich auf Suppen und Eintöpfe.
Von Tungelns Leibspeise war Milchsuppe. „Mit Schwarzbrot“, erinnert er sich. „Die habe ich nicht gegessen, die habe ich geschlotzt.“ Auch Brennnesselsuppe tischte die Bäuerin regelmäßig auf, die der Grundschüler zu seiner eigenen Überraschung schmackhafter fand als zunächst angenommen. Einige Jahre später habe er sie als Jugendlicher in einem Ferienlager aus dem Gedächtnis nachgekocht. „Die anderen waren von dem Geschmack so begeistert, dass sie mir einen Preis verliehen haben.“
Verstecken im Wald mit Schwein und Pferdekarren
Neben dem Schleppen und Aufladen von Kornsäcken gehörte zu den Aufgaben des Elfjährigen vor allem, die Pferde Max und Stella zu versorgen. Aber auch weit kleinere Tiere fielen in seinen Aufgabenbereich. „Im Sommer bekam ich manchmal schulfrei, weil ich beim Absammeln der Kartoffelkäfer helfen musste.“ Ein guter Tausch, wie er fand, schließlich war man dabei an der frischen Luft. Am tiefsten hat sich allerdings ein Schwein von Familie Wulfers in von Tungelns Gedächtnis eingebrannt. Das war zum Zeitpunkt des Geschehens schon nicht mehr am Leben, sondern hing frisch ausgenommen an einer großen Leiter.
„Plötzlich rief uns jemand zu, dass ein Kontrolleur auf dem Weg zum Hof sei“, erzählt von Tungeln. Damit das schwarzgeschlachtete Tier nicht entdeckt wurde, habe man ihn auserkoren, umgehend mit dem toten Tier auf dem Pferdekarren in den Wald zu fahren, um dort abzuwarten, bis der Kontrolleur wieder seiner Wege gezogen war. Bis zur Dämmerung hockte er im Wald auf dem Wagen – hinter ihm das tote Schwein. „Ich hatte eine Riesen-Angst“, erzählt er. Kurz bevor es dunkel war, habe ihn dann endlich jemand geholt.
Die kulinarischen Vorlieben von Werner von Tungeln haben sich bis heute kaum geändert. Fleisch mag er seit jeher nicht besonders, dafür liebt er Eintöpfe, wie es sie bei Familie Wulfers regelmäßig gab. Auch die Verwertung von Resten ist für ihn nach wie vor selbstverständlich. „Auch wenn ich nie wirklich gehungert habe, waren Nahrungsmittel etwas ungemein Wertvolles“, betont er. Daran hat sich für ihn nichts geändert. „Weggeworfen wird bei uns nichts.“