Tietjensee leer, Pumpen aus: Nach drei Tagen ist der erste Kraftakt zuende gegangen. Gut 35 Millionen Liter Wasser hat das Technische Hilfswerk abgelassen. Das Landgericht Bremen hatte den Auftrag dazu erteilt, um Klarheit im Mordprozess gegen einen heute 58-jährigen Mann zu bekommen. Ihm wird vorgeworfen, vor 25 Jahren seine Ehefrau Jutta Fuchs getötet zu haben.
Seit August muss er sich vor Gericht verantworten. Das Gericht hofft, die sterblichen Überreste der vermissten Frau aus Farge in dem See zu finden oder eine Pistole, die mutmaßliche Tatwaffe. Nachdem das Wasser nun abgepumpt ist, treten die Ermittler auf den Plan und untersuchen den Seegrund und die idyllisch gelegene Insel inmitten des Schlamms.
Aber erst muss Horst Gischewski mit seiner Arbeit fertig sein. Der Berufsfischer aus Beverstedt im Landkreis Cuxhaven hat den Auftrag, den See "fischfrei" an die Polizei zu übergeben. In den vergangenen Tagen hat er nach eigenen Angaben 400 bis 500 Kilogramm Fisch aus dem zusehends trockenfallenden Gewässer geholt: "Der Hauptanteil sind Silberkarpfen mit einem Gewicht um die zehn Kilogramm." Diese seien wegen der vielen Gräten praktisch ungenießbar. "Und es gibt viele kleine Barsche, die gerade mal sechs Zentimeter groß sind." Normalerweise, meint Gischewski, könne man eine Tonne Fisch aus einem solchen See holen. Aber was ist schon normal?
Dass im Zuge kriminalistischer Untersuchungen ganze Seen abgelassen werden, ist jedenfalls noch nicht oft vorgekommen. Polizeipressesprecher Nils Matthiesen jedenfalls hat so etwas noch nicht erlebt. Er und Gunnar Isenberg, der stellvertretende Landgerichtssprecher, waren am Dienstagnachmittag dabei, als der Öffentlichkeit ein vorerst letztes Mal Zugang zu dem See gewährt wurde. "Das hier ist jetzt ein Tatort", sagt Matthiesen zu der rundherum mit Sichtschutzplanen eingezäunten und durch einen Sicherheitsdienst rund um die Uhr bewachten Seelandschaft.
Der Polizeisprecher referiert die Ergebnisse der vergangenen Tage noch einmal als schmale Faktensammlung: Mit Unterstützung des Technischen Hilfswerks sei der See in gut drei Tagen leergepumpt worden. Nun müssten etwa 30 Zentimeter Schlammschicht untersucht werden, eventuell müsse auch tiefer geschaut werden. "Wir haben da ja keine Erfahrungswerte. Die Ermittler haben dabei Unterstützung von Experten aus dem In- und Ausland, die sich in verschiedenen Fachbereichen spezialisiert haben", sagt Matthiesen.
"Der Fischer hat einige Fische aus dem See geholt, über fallrelevante Funde sagen wird nichts", erklärt der Polizeisprecher. Auch nicht über Dinge, die gewöhnlich in Gewässern wie dem Tietjensee entsorgt werden: alte Fahrräder, Bauschutt oder aufgebrochen Tresore. Die Ermittler überlassen es der Fantasie der Beobachter, was sie sichergestellt oder einfach nur aus dem Wasser geangelt haben.
Ob Sedimentschichten abgetragen werden und wohin die matschige Materie gebracht werden könnte, kann er nicht sagen: Über "bestimmte Absuchmaßnahmen" könne aus ermittlungstaktischen Gründen nichts gesagt werden. "Es gibt ein klares Konzept, wir schauen, was technisch machbar ist", stellt der Polizeisprecher fest.
Klar ist aus polizeilicher Sicht, dass "wir so lange wie nötig suchen", wie Matthiesen sagt. Schon das Abpumpen sei eine "Herkulesaufgabe" gewesen. "Wir hoffen auf Beweise, die Suche ist unser gesetzlicher Auftrag – das sind wir Angehörigen und Freunden der Vermissten schuldig."
Auch Gunnar Isenberg vermag nicht abzuschätzen, in welche zeitliche und finanzielle Dimension mit der Seedurchsuchung vorgestoßen wird. Fest steht: "Das Gericht hat einen Durchsuchungsbeschluss für den ganzen See erlassen. Das wird sicher nicht ganz günstig, aber es geht um Mord, ein Kapitalverbrechen." Man müsse jetzt, während des Verfahrens, für Klarheit sorgen. "Mord verjährt nicht, Totschlag schon", sagt Isenberg.
Horst Wesemann, einer der Verteidiger des 58-jährigen Beschuldigten, verfolgt die Tatort-Präsentation an diesem Dienstag – wie schon bei vorherigen Gelegenheiten. Auch Helmut Kellermann, Vorsitzender Richter am Landgericht, ist mit zwei Mitgliedern des Gerichts zugegen. "Wir wollen uns das mal anschauen" sagt er, "schließlich haben wir das ja angeordnet." Offenbar ist vermutet worden, dass der See tiefer sei. Darauf lässt schließen, weil fürs Abpumpen zunächst bis zu fünf Tage veranschlagt worden waren.
Noch allerhand Arbeit
Horst Gischewski ist vorerst weiter mit Fischen beschäftigt: "Aale winden sich noch einige Tage lang aus dem fetten Matsch des Seegrundes." Der Fischer hat am Dienstag Reusen aufgestellt. Die ersten gekescherten Exemplare rangieren in der Ein-Kilo-Klasse. Laien können sich das als Größe XXL vorstellen. In Absprache mit dem Pächter des Gewässers hat Gischewksi extra einen seiner 40 Karpfenteich geleert, um die Tiere aus dem Tietjensee zwischenzuhältern. So nennt der Fachmann deren vorübergehende Aufnahme. Bei der Umsetzaktion habe es keine toten Fische gegeben, das sei das Wichtigste, sagt der Fischer.
Bis auf Weiteres hat Horst Gischewski noch allerhand Arbeit am Tietjensee. Sein Kerngeschäft, der Handel mit eigenen Weihnachtskarpfen, muss warten. Denn nach den Aalen werden ihn die Teichmuscheln beschäftigen, die aus dem Schlick geholt und ebenfalls umgesetzt werden müssen. Wie die Silberkarpfen, über die sich Gischewski immer noch wundert. Irgendwann kommen die Fische zurück. Sobald wieder Wasser im See ist. Sobald der Schlamm untersucht ist.