Ein peinlicher Moment, den wohl jeder kennt. Man trifft auf einen Menschen, dessen Gesicht einem bekannt vorkommt, und weiß: "Den kenne ich." Bloß woher? Und wie heißt er noch gleich? Ronny N. kann das nicht passieren. Er hat die seltene Gabe, kein Gesicht, das er einmal gesehen hat, zu vergessen. Und er erkennt es selbst in großen Menschenmengen wieder. Was nützlich ist in seinem Beruf als Zivilfahnder, aber nicht immer schön im Privatleben. Er selbst spricht von "Fluch und Segen". Der 34-Jährige ist "Super-Recogniser" bei der Bundespolizei in Bremen.
Dass er sich Menschen gut merken kann, nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre Namen, Körperhaltung und Mimik, ja sogar, wie sie gehen, habe er schon als Kind gewusst, erzählt Ronny N. (ein Pseudonym, so viel Anonymität muss als Polizeibeamter sein). Als dann vor drei Jahren innerhalb der Bundespolizei nach Super-Recognisern gesucht wurde, habe er sofort gewusst: "Das bin ich."
Er mag allerdings die Bezeichnung "Wiedererkenner" lieber. Genau darum geht es bei seiner Tätigkeit – Menschen, die wegen Straftaten gesucht werden, wiederzuerkennen. Das können auch andere, erfahrene Zivilfahnder, mit denen der 34-Jährige im Team arbeitet. Bei ihm kommt aber etwas dazu, das er selbst mit "Bauchgefühl" umschreibt.
Gesuchte Personen zu identifizieren, sei ein sehr befriedigendes Gefühl – "ich habe einen tollen Job" – könne aber auch hochanstrengend sein, insbesondere, wenn es darum geht, gezielt nach einzelnen Personen zu suchen. Was er vor allem merke, wenn er sie gefunden hat. "Anschließend kann ich nicht richtig schlafen. Wenn ich mich lange mit Gesichtern beschäftigt habe, bekomme ich sie tagelang nicht aus dem Kopf und träume von diesen Leuten."
Die Tätigkeit als Super-Recogniser mache aber nur einen Teil seiner Arbeit aus. Sie sei sozusagen ein "nettes Beiwerk" oder, wenn man so wolle, bei Bedarf ein "zusätzliches Einsatzmittel". In erster Linie ist der 34-Jährige Zivilfahnder. Die Einsätze, in denen seine besonderen Fähigkeiten gefragt sind, sind vielfältig. Der Fußball, die Hooligan-Szene, gehöre dazu, sagt er und berichtet von einem Großeinsatz am Bahnhof in Hamburg-Bergedorf, wo Hooligans erst den Bahnhof und dann einen Zug auseinandergenommen hatten. Anschließend wurden unter rund 800 Zug-Passagieren 50 bis 70 Randalierer gesucht, die zuvor gefilmt worden waren. "Wir haben 60 bis 70 Prozent von denen identifiziert."
Bei einem anderen Einsatz ging es um das Konzert eines iranischen Musikers, bei dem es konkrete Hinweise auf einen geplanten Mordanschlag gab. Er habe sich die Gesichter möglicher Attentäter eingeprägt und dann das Umfeld des Konzertsaales beobachtet. "Zum Glück ist aber nichts passiert." Andere Einsätze im Team der Zivilfahnder sind weitaus unspektakulärer. Da könne auch mal ein Senior gesucht werden, der aus einem Pflegeheim ausgebüxt ist, oder ein weggelaufenes Kind. "Ende Juli wurde nach jemandem gefahndet, der ist dann zufällig in der Stadt an mir vorbeigelaufen." Sein Pech, Ronny N. verständigte seine Kollegen, die den Mann kurze Zeit später festnehmen konnten.
Ob er sich auch mal irre? "Sehr selten, vor allem, wenn die Bildvorlage schlecht ist. Aber das gebe ich dann auch gerne zu." Wenn er meint, einen Gesuchten gefunden zu haben, habe er drei Kategorien, die er an die Kollegen weitergebe: Es könnte sich um die Person handeln. Es könnte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die gesuchte Person handeln. Oder: Es handelt sich zweifelsfrei um die gesuchte Person. "Wenn ich ein gestochen scharfes Bild als Vorlage habe, irre ich mich eigentlich nie."

Auch die Videoüberwachung im Hauptbahnhof bietet Möglichkeiten für die Arbeit des Zivilfahnders.
Letztlich ist dies dann allerdings auch nicht mehr seine Sache. "Ich gebe Hinweise, liefere neue Ermittlungsansätze, führe den Kollegen Tatverdächtige zu." Die Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Straftäter gerichtsfest zu machen, ist dann Aufgabe anderer. Als Zeuge vor Gericht hätte er es als Super-Recogniser ohnehin noch schwer, berichtet der 34-Jährige. Er weiß, dass diese noch relativ neue Methode nicht unumstritten ist. Trotz aller wissenschaftlichen Tests, die er absolviert hat, trotz eines Zertifikats, das ihm seine besonderen Fähigkeiten bescheinigt.
Zwiespältig ist seine Gabe im Privatleben. "Einerseits fühle ich mich sehr wohl damit, jeden zu erkennen." Andererseits habe er sich abgewöhnen müssen, jeden zu grüßen. Er wisse immer, wen er vor sich habe, selbst wenn er der Person vor langer Zeit und auch nur kurz begegnete. "Aber das löst bei den anderen dann oft ein unangenehmes Gefühl aus, weil sie mich nicht erkennen." Nicht einfach, in diesem Sinne einfach mal abzuschalten.
Was er damit meint, wird bei einem Gang durch den Hauptbahnhof deutlich. Eigentlich nur für ein Foto in der großen Halle. Doch sofort läuft seine interne Gesichtserkennung an. "Bisher habe ich vier Personen erkannt, die schon mal straffällig waren", raunt er beiläufig nach nur wenigen Metern. Dann biegt er unvermittelt nach links ab. Er hat noch jemanden ausgemacht, den er wegen diverser Delikte schon länger kennt, erklärt er kurz darauf. Auffallend dicht hinter einem potenziellen Opfer für einen Taschendiebstahl. "Er hat dann aber doch nichts gemacht." Glück für den arglosen Passanten. Und in diesem Fall auch für den Langfinger, der nicht einmal ahnte, dass sein Gesicht längst erkannt wurde.