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Tabakquartier So wandelt sich das Brinkmann-Gelände zum neuen Stadtviertel

In drei Jahren soll das Tabakquartier in Bremens Stadtteil Woltmershausen fertig sein. Investiert werden rund 700 Millionen Euro, unter anderem für 1500 Wohnungen. Eine Zwischenbilanz.
02.02.2022, 06:00 Uhr
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So wandelt sich das Brinkmann-Gelände zum neuen Stadtviertel
Von Jürgen Hinrichs

Wenn etwas groß ist, sehr groß, muss als Vergleich oft herhalten, was noch erfassbar ist und vor dem geistigen Auge Bestand hat. Deswegen nun dies: 200.000 Quadratmeter sind 28 Fußballfelder – so viel Fläche hat das neue Tabakquartier in Bremens Stadtteil Woltmershausen. Und um im Bild zu bleiben, kann vorweg schon mal gesagt werden, dass auf diesen Feldern einige lästige Regeln gar nicht erst gelten. Es gibt, kurzum, kein Abseits, denn wer will sich dort schon aufhalten? Und abgepfiffen wird auch nicht, im Gegenteil: Die Mannschaften laufen gerade erst auf, das Spiel beginnt und geht nie mehr zu Ende.

Gewinner? Verlierer? Nicht absehbar. Sicherlich wird es mal Auswechslungen geben, auch das eine oder andere Foulspiel, der Spannung und dem Ertrag tut das aber keinen Abbruch. Und nun erst einmal eine Zigarette.

Ein Mann und eine Frau stehen auf dem Balkon und rauchen. Dass die beiden ihrem Laster frönen können, haben sie dem Denkmalpfleger zu verdanken. Eigentlich darf an der 110 Jahre alten Tabakfabrik nämlich nichts verändert werden, sie steht unter Schutz. Zum Qualmen oder Luft schnappen immer in den Hof, den weiten Weg gehen, Zeit verplempern, wäre aber unpraktisch gewesen. Also drückte Georg Skalecki, der ansonsten so gestrenge Wächter über Bremens Bauten, ein Auge zu und erlaubte die Balkone.

Bremer Tabakquartier zog schon 300 Firmen an

Eine rauchen, klar, warum nicht? Wenn die Besprechungsräume in der Fabrik nach Zigarettenmarken benannt werden, nach "Lord Extra" zum Beispiel – dann darf doch wohl erlaubt sein, zwischendurch mal zu schmöken. Eine Reminiszenz an alte Zeiten, als auf dem Gelände der Martin Brinkmann AG so viele Glimmstengel produziert wurden, wie nirgendwo sonst in Europa. In den besten Zeiten des Unternehmens, das längst abgewickelt ist, waren dort Tausende Menschen beschäftigt – eine solche Menge, wie es sie auf dem Areal bald wieder geben wird. Das Tabakquartier als Ort der Arbeit: 300 Firmen schon, die dort ihren Geschäften nachgehen.

Vor ein paar Tagen kündigte das Dienstleistungsunternehmen hsagON an, im Frühjahr in eines der vielen Bürolofts mit dem oft gepriesenen Charme alter Industrie zu ziehen. Die Experten für Kundenservice verlassen ihren bisherigen Sitz in der Überseestadt, weil er ihnen zu klein geworden ist. 60 Arbeitsplätze immerhin, die das Tabakquartier hinzugewonnen hat. 

Doch fragt man die Eigentümer, wissen sie nichts davon. Daran schon ist ersichtlich, welche Größenordnung das 700-Millionen-Projekt hat. Clemens Paul und Joachim Linnemann sehen sich die Pressemitteilung des Maklers über den Umzug von hsagON an – mit Interesse zwar, doch die hält sich in Grenzen. Noch eine Ansiedlung, schön, aber lassen Sie uns weitergehen, es gibt noch so viel, was wir Ihnen zeigen wollen.

Ja, so viel, dass einem am Ende vom Laufen und Treppensteigen die Beine weh tun. Der Rundgang beginnt in der Fabrik mit ihren 70.000 Quadratmetern, die vor allem als Bürofläche genutzt werden. Es gibt dort auch ein Hotel mit knapp 100 Zimmern, das Unique der Atlantic-Gruppe. Außerdem Gastronomie und ein riesiges Foyer, das mit gut fünf Metern Deckenhöhe, den Böden und Lampen sofort die Anmutung einer Fabrik vermittelt – rustikal, grundehrlich und gleichzeitig modern.

Paul und Linnemann sind zwei Männer, die als Projektentwickler mit dem Tabakquartier in Woltmershausen ein zweites Mal voll ins Risiko gegangen sind. Zuerst war es vor knapp 20 Jahren die Überseestadt, in der die beiden sich mit ihrem Immobilienunternehmen Justus Grosse engagiert haben. Damals sammelten sie zum Beispiel durch den Umbau von Speicher I im alten Hafen Erfahrungen, die ihnen jetzt zugutekommen. Einen Heidenrespekt vor der neuen Aufgabe hatten sie trotzdem: "Als wir für Teile des Brinkmann-Geländes vor sechs Jahren ein Angebot bekamen, fehlte uns noch der Mut", erzählt Linnemann.

Tabakquartier ist das bisher größte Projekt von Justus Grosse 

Weil es in der Überseestadt aber so gut lief und alles, was von Justus Grosse entwickelt wurde, mit Erfolg vermietet oder verkauft werden konnte, hatten sie irgendwann das breite Kreuz, ein weiteres Projekt zu starten, das größte in der Geschichte des Bremer Familienunternehmens. "Dann ging es ratzfatz, zwei Wochen nach der Einigung mit dem bisherigen Eigentümer des Areals hatten wir den Notartermin", erinnert sich Paul. Das eben sei der Vorteil eines Mittelständlers: "Wir sind schnell und können entscheiden."

Im Mai 2018 war das. Und was hatten sie gekauft? "Die Katze im Sack", sagt Paul. In einzelne Gebäude seien sie vom Verkäufer erst gar nicht hineingelassen worden. Ein Beispiel ist das ehemalige Heizwerk mit seinem markanten Schornstein, "unser Wahrzeichen", sagt Linnemann.

Die Neugier war groß, als sie das Gebäude betraten. Ist damit überhaupt etwas anzufangen? Gibt es Altlasten? Muss es abgerissen werden? Die Antwort war eine Veranstaltung, die erste im Heizwerk, kurz bevor Corona begann. Der Umbau hatte also geklappt. Seitdem kann die kirchengroße Haupthalle wegen der Pandemie zwar nicht in dem Maße genutzt werden, wie gewünscht. Buchungen trudeln aber trotzdem ein, gerade erst wieder für eine Weihnachtsfeier im Dezember. Bei Kerzenschein, Wein und feinem Essen inmitten von Kesseln, Bottichen, Becken, Armaturen, Reglern und Rohren – ist die Stimmung gut, kommt ordentlich Dampf drauf.

Für die Tabakfabrik fehlt noch ein Bauabschnitt, dann ist sie in ihrer neuen Gestalt fertig. Von den drei Speichern, die in Richtung Senator-Apelt-Straße liegen, ist einer bereits in Betrieb, lauter Büros. Die anderen beiden werden gerade mit ohrenbetäubendem Lärm entkernt. In der vergangenen Woche hat die Baubehörde die Erlaubnis für 222 Wohnlofts und vier Büroeinheiten erteilt, "nach New Yorker Vorbild", wie Justus Grosse stolz mitteilt. Das allein kostet nach Angaben des Unternehmens rund 71 Millionen Euro.

Wohnungen werden außerdem in einem Teil der ehemaligen Tabaklagerhallen geschaffen: 200 Einheiten unterschiedlicher Größe für mehr als 50 Millionen Euro. Drei der sechs Hallen sollten eigentlich abgerissen werden, um Platz für Neubauten zu schaffen, dann erwies sich die Substanz aber doch noch als gut genug. Das gesamte Quartier wird am Ende etwa 1500 Wohnungen umfassen: In einem der Speicher, in den Hallen und auf der Fläche, die für Neubauten reserviert ist. Komplett fertig sein soll das Projekt Tabakquartier Ende 2024.

Zuletzt führen die Entwickler in eine Halle, die an dem einen Ende heute schon ein Theater beherbergt, das Boulevardtheater Bremen. Es hat knapp 400 Plätze und ist ein Ableger des Weyher Theaters, das sich als größtes und erfolgreichste Privattheater in Niedersachsens bezeichnet. An dem anderen Ende der Halle sind noch Arbeiter zugange. Im Frühjahr werden dort die Bremer Philharmoniker ihre neue Konzerthalle mit angrenzenden Büros beziehen. Paul und Linnemann sprechen von einer "Spezialimmobilie" – Büros, Wohnungen und Gewerbe, das können sie, aber so etwas? "Wir sind überzeugt, dass es klappt", sagen die beiden. Hat es bisher ja immer.

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Eigentümer der Fläche, auf dem die ehemalige Tabakfabrik steht, war vor dem Verkauf an Clemens Paul und Joachim Linnemann die Sirius Facilities GmbH in Berlin. Sie hatte das Areal 2007 erworben. Das Unternehmen betreibt in Deutschland sogenannte Business-Parks. Im Angebot sind Büros, Lagerräume und Konferenzräume. Auf dem Brinkmann-Gelände ist dieses Konzept nur begrenzt aufgegangen. Es gab viel Leerstand; wirklich engagieren wollte sich Sirius in Woltmershausen offenkundig nicht. Neben Paul und Linnemann soll es damals weitere Interessenten für das Areal gegeben haben, darunter ein Verbund der Unternehmen Gebr. Rausch Wohnbau, Dr. Hübotter Gruppe und Interhomes. Als Kaufpreis war ein Betrag von 16,5 Millionen Euro im Gespräch.

Paul und Linnemann, Eigentümer des Bremer Immobilienunternehmens Justus Grosse, konnten Speicher und Lagerhallen erwerben, die auch nach mehr als 110 Jahren zu einem großen Teil noch in einem sehr robusten Zustand sind. Anfang des vergangenen Jahrhunderts hatte der Bremer Kaufmann Hermann Ritter, nach dem am ehemaligen Firmengelände eine Straße benannt ist, das Unternehmen Martin Brinkmann in Burgdamm gekauft, den Namen beibehalten und die Zigarettenproduktion nach Woltmershausen umgesiedelt.

Die Fabrik hatte einen solchen Ausstoß, dass sie zur größten in Europa wurde. 1972 ging Brinkmann in den Besitz des internationalen Rupert-Konzerns über. 20 Jahre später übernahm Rothmans International die Produktion. Zuletzt waren es nur noch 250 Mitarbeiter. 2015 stellte ein weiterer neuer Eigentümer, die British American Tobacco (BAT), die Produktion ein.

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