Vor gut 250 Jahren wurde Wing Tsun von einer chinesischen Nonne entwickelt, um sich gegen stärkere Angreifer verteidigen zu können. Besonders für Frauen ist diese Kampfkunst geeignet. Einem Anfänger-Seminar stellt sich Iris Messerschmidt.
„Ich hatte auch schon Frauen über 70 Jahren dabei.“ Diese telefonische Auskunft von Trainer Ronald Bartscherer noch im Ohr, stehe ich am frühen Sonnabendmorgen in entsprechender Kleidung in der Sporthalle Aschwarden. Ob das Frösteln von der noch nicht geheizten Sporthalle oder doch eher vom mulmigen Bauchgefühl kommt? Schließlich traue ich mich zum ersten Mal an eine Kampfkunst heran. Aber die Ankündigung klang vielversprechend: „Wing Tsun – Selbstverteidigungsseminar für Frauen und Mädchen.“
Das erneute Frösteln ignorierend begrüße ich mit aufgesetztem Selbstbewusstsein die sechs Mitstreiterinnen und Trainer Ronald Bartscherer. Damit habe ich unwissentlich auch schon einen wichtigen Punkt richtig gemacht: „Täter suchen Opfer. Also lauft nicht mit gesenktem Kopf wie ein Opfer durch die Welt, sondern demonstriert Selbstbewusstsein“, macht der Trainer deutlich. „Wir duzen uns doch alle?“ Diese Frage hängt nur rhetorisch im Raum, da gibt es auch schon die Vorstellungsrunde: „Christiane, Manuela, Dagmar, Marion, Jutta, Iris“, Co-Trainer Thomas trifft ein, schon folgen wir „bis an die blaue Linie“.
Dass dieser drahtige Ronald seit 24 Jahren Wing Tsun macht, glaube ich ihm beim Anblick der ersten Übungen mit Co-Trainer Thomas gerne. „Ich bin nicht gerade der Kräftigste. Mit 13 Jahren habe ich immer von den Älteren auf die Nase bekommen. Karate-Training hat nichts genutzt. Erst mit Wing Tsun wurde es besser.“
Während Ronald noch Mut machende Geschichten aus seinem Leben erzählt, schiebt sich das Frauensextett „in Grundstellung“ schlurfend über den Sportboden. „Rechter Fuß vor den linken, schräg nach links ausgerichtet. Das Gewicht auf den linken Oberschenkel konzentriert. Das Becken beziehungsweise der Körper bleibt gerade nach vorne ausgerichtet. Einen Schritt nach vorne, einen Schritt zurück, ohne das Standbein vom Boden zu nehmen!“ Wie bitte? Nach ersten Versuchen, die eher einem geschlichenen Ausfallschritt beim unprofessionellen Tangotanz gleichen, und der tatkräftigen Korrektur durch handauflegende Trainerhände scheinen wir Anfängerinnen ein ganz passables Bild abzugeben. „Frauen lernen das immer schneller als Männer“, hört es sich zumindest nach Ronalds kontrollierendem Blick wie eine positive Bewertung an.
Noch ganz über den Gedanken sinnierend, ob ich wohl mit dieser Schrittfolge und in „Kampfpose“ befindlicher Armhaltung ein eher merkwürdiges Bild abgebe, erreicht mich eine Bemerkung. „Ich werde morgen Muskelkater im linken Oberschenkel haben“, lässt mich Übungsnachbarin Dagmar wissen. „Ich habe den jetzt schon“, presse ich durch meine bis auf die letzten Haarspitzen angespannte Muskulatur. Das muss auch Ronald mitbekommen haben. „Nicht verkrampfen. Immer locker bleiben, die Anspannung ist nur im linken Oberschenkel.“ Leichter gesagt als getan. Glücklicherweise folgt gleich darauf die Ansage: „Nächste Übung.“
Die Vorgabe: Thomas soll Ronald angreifen. Kaum nachzuvollziehende Sekunden später ist aus dem Angreifer Thomas das Opfer Thomas geworden. Innerlich klatsche ich dem Erfinder der „Zeitlupe“ Beifall, während Ronald die Übung in langsamen Tempo für uns zum Nachahmen wiederholt. Wie war das noch mal? Ach ja, Selbstbewusstsein demonstrieren.
Partnerwahl. Dagmar steht mir gegenüber – und sie greift an. Es gibt Momente im Leben, da stellt sich der sogenannte „Aha“-Effekt ein. Während dieses mehrstündigen Wing Tsun-Seminars habe ich einige davon. Am stärksten in Erinnerung bleibt allerdings der erste. Der vermeintliche Angreifer namens Dagmar – immerhin einen Kopf größer als ich, was zugegebenermaßen bei meinen 159 Zentimetern nicht sehr schwierig ist – kommt frontal auf mich zu. Sie soll einen aufdringlichen Menschen mimen und mich umklammern. Ich gehe in Grundstellung, der Schwerpunkt liegt – tatsächlich und ohne weiteres Nachdenken – auf meinem linken Oberschenkel, der rechte Fuß steht, wie angewiesen, weiter vorne. Jetzt könnte ich mit dem rechten Fuß einen schnellen Tritt in Richtung Angreifer vollführen, schließlich bin ich durch meinen linken, angespannten Oberschenkel wie mit dem Boden verwurzelt ... Aber nein, das war ja nicht Sinn der Übung. Dagmar kommt mit angriffslustig ausgestreckten Armen auf mich zu – und wird fast von meinem Ellenbogen ausgeknockt.
Die anfängliche Angst um meine schon zuvor arg gebeutelten Schultergelenke ist wie verflogen. Stur Ronalds Anweisungen folgend, reiße ich bei Dagmars Angriff beide Arme angewickelt nach oben, „die Hände finden sich locker im eigenen Nacken wieder“. Tatsächlich: Dagmars Hände, die offensichtlich zupacken wollen, greifen nicht nur ins Leere – der ganze Schwung dieser Angreiferin läuft ins Leere und prallt auf mich, die ich in standfester Grundstellung ein menschliches Bollwerk dagegen bilde. Beim seitlichen Abgleiten an meinen Schultern kommt Dagmars Kinn meinem Ellbogen bedenklich nah. Wäre meine Übungspartnerin nun ein echter Angreifer – sein Zahnarzt hätte seine helle Freude. Auch dem Chiropraktiker hätte ich ein weiteres Einkommen verschaffen können, denn die nächste Aktion wäre ein Schlag mit meiner Unterarmkante gegen den Hals des Angreifers gewesen.
Zahlreiche Angriffe
„Das klappt ja, ich hatte wirklich keine Chance.“ In Dagmars Augen spiegelt sich meine Überraschung wider: Es funktioniert! Nicht nur das, es macht auch Spaß. Wieder und wieder greifen wir uns gegenseitig an und wehren uns ebenso ab. Mein Handgelenk fest umklammern? Wenn ich das nicht möchte, wird das keiner mehr schaffen. Jemand greift mich von hinten an und will mich festhalten? Mit den Schmerzen an entsprechenden Körperstellen muss er danach leben. Ja, selbst dem Angreifer, der glaubt, mich durch das Würgen meines Halses außer Gefecht zu setzen, habe ich mit entsprechender Wing Tsun-Übung etwas entgegenzusetzen. Sich seiner Aufgabe als Trainer sehr wohl bewusst, hatte Ronald diese Übung „mehr realitätsnah“ gleich selbst übernommen.
Nach fast drei Stunden Training und sich schon ankündigender Hämatome, („ihr solltet den Arm schon richtig wegschlagen, ein zartes Tätscheln hilft nicht“), ist mein Adrenalin-Spiegel allerdings so hoch, dass der doch deutlich festere Griff des Trainers um meinen Hals nicht mal für eine Schrecksekunde reicht. Angriff Ronald, Abwehr Iris. Ja, ich gestehe es: Ich freue mich. Denn mit der richtigen Wing Tsun-Technik schaffe ich es sogar, den durchtrainierten Mann von meinem Hals weg und zu Boden zu drücken. Auch der Co-Trainer, der mit „Thomas, würg mal Christiane“ von Ronald zum „realitätsnahen Mitmachen“ aufgefordert wird, hat nichts entgegenzusetzen.
Nun ja, bei näherer Betrachtung war dieses wohl der momentanen Euphorie geschuldet. Sicherlich hätten diese seit 24 beziehungsweise 20 Jahren erprobten Wing Tsun-Trainer uns ganz schnell außer Gefecht setzen können. Doch so sicher, wie sich am Tag nach dem Seminar diverse blaue Flecken bei mir einstellen, so sicher bin ich mir, dass Ronald Recht hat, wenn er sagt: „Wing Tsun ist keine Kampfkunst, die man ,nur‘ für den Wettkampf übt. Wing Tsun dient zum Überleben. Sehr realitätsnah und schnell zu lernen.“
Infos: Wing Tsun Kampfkunstschule in der Begu Schwanewede. Telefon: 0173/1834185 und wingtsun-schwanewede.de.
Die Legende des Wing Tsun
Wing Tsun ist eine von ganz wenigen Kampfkünsten, die ihre Ursprünge auf Frauen zurückführt. Die Legende beginnt während der Kanghsi-Regierung der Ching-Dynastie. Die Ching-Regierung hatte Angst vor den Shaolin-Kämpfern und beschloss, die Mönche zu töten. Nur ein paar Kämpfer entkommen. Zu diesen gehörte die buddhistische Nonne und Shaolin-Meisterin Ng Mui. Die Legende besagt, dass sie nach der Zerstörung des Shaolin-Tempels im Weißen Kranich-Tempel am Tai-Leun-Berg lebt. Während ihrer Einkaufstouren im nahe liegenden Dorf trifft sie an einem Tofu-Stand Yim Lee und seine Tochter Wing Tsun („schöner Frühling“). Das junge Mädchen wird von dem Kung Fu-Experten und notorischen Schläger des Dorfes, namens Wong, bedrängt. Ng Mui hilft, in dem sie Yim Wing Tsun drei Jahre lang im Tempel Privatunterricht, und zwar in einem neu von ihr ausgedachten Kampfstil gibt. Nach drei Jahren kommt es zum Kampf zwischen Wing Tsun und Wong, Wing Tsun siegt und der neue Kampfstil von Ng Mui erhält seinen Namen.