Mit seinem Abgang am 17. Juli 1965 ging eine Ära zu Ende. Da war es fast eine Selbstverständlichkeit, ihn zum Ehrenbürger der Stadt Bremen zu ernennen – und damit den Mann, der wie kein anderer den Wiederaufbau nach dem Krieg verkörperte. Schon damals war Kaisen ein lebendes Symbol, eine Ikone der frühen Nachkriegsjahre. Doch was ist uns Kaisen heute? Nur noch ein Relikt der Vergangenheit oder taugt er auch zu mehr, kann er noch als Vorbild dienen, lässt sich von ihm womöglich noch was lernen?

In der rechten Hand die Hacke, in der linken die Zigarre - der alte Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen auf seinem Hof in Borgfeld.
Bezeichnend ist, dass man Kaisen gemeinhin nicht als Sozialdemokraten denkt. Im kollektiven Gedächtnis ist er in erster Linie als Bürgermeister und Landesvater gespeichert, nicht als Parteimann. Das entspricht durchaus seinem Credo. Als Nachkriegspolitiker suchte er den parteiübergreifenden Konsens zur Bewältigung der großen Aufgaben, das vielbeschworene „Bündnis von Kaufleuten und Arbeitern“ sollte es richten. Obschon die SPD ab 1955 allein hätte regieren können, machte er mit seinen bisherigen Koalitionspartnern CDU und FDP einfach weiter.
Weitaus weniger in Erinnerung geblieben sind seine Verdienste um die Wiederherstellung der Eigenständigkeit Bremens. Was vor allem damit zu tun hat, dass das Wissen um ihren Verlust während der NS-Herrschaft schon fast den Status von Expertenwissen hat.
Eine rein historische Figur ist Kaisen als Vorkriegspolitiker. Seine Anfänge als Parteijournalist und Bürgerschaftsabgeordneter kurz nach dem Ersten Weltkrieg liegen gleichsam im Dunkel der Geschichte. Natürlich ist da seine Tätigkeit als Wohlfahrtssenator von 1928 bis 1933. Doch diese Zeit bis zur Kaltstellung nach der NS-Machtübernahme wirkt rückblickend wie ein Intermezzo, wie ein bloßer Vorlauf für seine Karriere nach 1945. Wirkliche Relevanz für Bremen und über Bremen hinaus erlangte er erst in den Nachkriegsjahren.
Noch heute nötigt es Respekt ab, mit welchem Selbstbewusstsein dieser Mann seine Aufgabe anpackte. Schon in den ersten Gesprächen mit der amerikanischen Besatzungsmacht machte er unmissverständlich klar, mehr sein zu wollen als nur ein Befehlsempfänger. Verbiegen ließ er sich nicht, dazu war er 1945 mit seinen 58 Jahren schon zu alt und zu erfahren. Ebenso wenig ließ er sich durch übergeordnete Instanzen beeindrucken. Das bekam auch ein Kurt Schumacher zu spüren, der es als SPD-Vorsitzender nicht schaffte, den unbotmäßigen Querdenker auf die deutschlandpolitische Parteilinie zu bringen.
Als Bürgermeister setzte Kaisen klare Prioritäten. Berühmt geworden ist seine Devise „Erst die Häfen, dann die Stadt“. Im Klartext: Zunächst sollte die Wirtschaft angekurbelt werden – die Beseitigung der Wohnungsnot kam erst danach an die Reihe. Als es dann aber so weit war, setzte Bremen mit der „Neuen Vahr“ ein vielbeachtetes Zeichen, einen städtebaulichen Meilenstein, der europaweit für Aufmerksamkeit sorgte.
Eine Stärke Kaisens war seine Gabe, Aufgaben zu delegieren: Richtlinien vorzugeben, aber seinen Mitarbeitern im Detail freie Hand zu lassen. Dadurch verschaffte er sich Freiräume auf nationalem, später auch internationalem Parkett. Nur deshalb konnte er sich als Deutschland- und Europapolitiker profilieren. Denn solange es keine Zentralgewalt gab, kamen die Impulse zur Wiederherstellung der deutschen Einheit aus den Ländern. Nicht zuletzt aus Bremen, dem Gastgeber der ersten beiden „Interzonenkonferenzen“ von 1946.
War ihm Bremen zu klein? Schwer zu beantworten. Das Format für eine Karriere als Bundespolitiker hätte er sicher gehabt, nicht ohne Grund wurde er als Bundespräsident und Außenminister gehandelt. Die Frage ist nur, ob er wirklich gewollt hätte. Schon eine mehrwöchige USA-Reise im Frühling 1950 setzte ihm arg zu, nur schwer konnte er die Trennung von seiner Familie verkraften.
Seine bis heute ungebrochene Popularität hat viel mit seiner Bodenständigkeit zu tun. Es war ein langer Weg vom gelernten Stuckateur bis zum Spitzenpolitiker. Dann auf der Höhe seiner Karriere der Absturz von 1933, sein Rückzug auf die Siedlerstelle in Borgfeld, die langen Jahre der „inneren Emigration“. Auch als Bürgermeister wollte er seine landwirtschaftliche Tätigkeit nicht aufgeben. Das schätzten die Menschen, man sah darin einen Beweis seiner Charakterstärke. Tatsächlich dünkte er sich nie als etwas Besseres, es ist kein Märchen, dass er und seine Frau Helene immer ein offenes Ohr hatten für die Sorgen und Nöte der „kleinen Leute“.
Triumphaler Wahlsieg
Den Zenit seiner Macht, seiner Popularität erreichte Kaisen mit dem triumphalen Wahlsieg von 1959: 54,9 Prozent für die SPD – das war noch einmal ein Plus von 7,2 Punkten gegenüber dem auch schon beachtlichen Ergebnis von 1955. Für Kaisen ein sehr persönlicher Erfolg, weil der Wahlkampf als moderner Wahlkampf nach US-Vorbild ganz auf seine Person ausgerichtet gewesen war.
Kein Zweifel, Kaisen war mehr als nur ein Landesvater. Er war der Übervater, der Garant des Wohlstands, der Wiederauferstehung aus Ruinen. Kaisen als ungekrönter Kaiser von Bremen. Nicht zu Unrecht attestiert ihm sein Biograf Karl-Ludwig Sommer eine „monarchische Attitüde“, einen Hang zur patriarchalisch-autoritären Amtsführung.
Freilich war dergleichen kein Einzelfall. In der damaligen politischen Landschaft waren die großen alten Männer häufiger anzutreffen, Adenauer oder Heuss könnte man die gleichen Eigenschaften zuerkennen. Vielleicht brauchten die Menschen in den Jahren des forcierten Wiederaufbaus diesen Typus des Politikers. Einen, an den man sich halten kann, der väterliche Fürsorge ausstrahlt, der Gerechtigkeit nach allen Seiten garantiert.
Dabei war Kaisen nicht frei von Eitelkeit, er selbst bastelte kräftig mit am eigenen Mythos. Da wurde aus zweiwöchiger Gestapo-Haft schon mal eine zweimonatige, da tat er so, als sei sein Vorgänger Erich Vagts nur so lange im Amt geblieben, wie er es gewollt habe, da suggerierte er, der Wiederaufbau sei nach einem ausgeklügelten Plan verlaufen statt auch mal ein bisschen improvisiert gewesen zu sein.
Radikal realpolitisch
Als Deutschlandpolitiker kann uns Kaisen nicht mehr viel geben, seit der Wiedervereinigung sind seine Aktivitäten nur noch historisch interessant. Hochaktuell dagegen sein Vermächtnis als Europäer, als Europapolitiker. Dabei wäre es nostalgische Verkennung der Tatsachen, ihn als reinen Idealisten zu sehen. Die Europa-Euphorie der jungen Generation in den frühen Nachkriegsjahren teilte er nicht. Vielmehr agierte er auch auf internationaler Ebene als nüchterner Pragmatiker. Ihm ging es zunächst einmal um ökonomische Aspekte, um Absatzmärkte für deutsche Exportwaren, im Kern um die Zukunft Bremens als Hafen- und Handelsstadt. Um die dauerhaft zu sichern, war ein unbeschränkter Markt erforderlich. Von der wirtschaftlichen zur politischen Einigung, das war seine Zielperspektive.
Das alles klingt irgendwie bekannt. Man könnte sagen: ein radikal realpolitischer Ansatz. Immer ging es ihm um das Machbare, das Sinnvolle, allerdings immer auch um Grundsätze. Es ist vielleicht ein schöner Denkstoff, dass Kaisen nicht nur den früheren SPD-Chef und Reichspräsidenten Friedrich Ebert als Vorbild betrachtete. Sondern auch die prinzipientreue Rosa Luxemburg verehrte, die er auf der Parteischule in Berlin noch selbst kennengelernt hatte.