Bremen-Nord. 1920 wurde der Bremer Kanu-Club, der erste rein Bremer Kanuverein gegründet. 100 Jahre organisierter Paddelsport in Bremen – das nahmen Inge Voigt-Köhler und Diethelm Knauf als Anlass, um das Buch „Mit Stöckelschuh und Krawatte im Paddelboot. Bremen am Wasser – Von den Goldenen Zwanzigern bis in die 1970er-Jahre“ zu veröffentlichen.
Im Mittelpunkt des Buches stehen Fotos aus den drei umfangreichen Alben des Bremer Kanu-Clubs. Das erste Album reicht von 1920 bis 1930, das zweite von 1930 bis März 1935. Das dritte und letzte Album endet 1941 mit Fotos von den im Krieg gefallenen und vermissten Vereinskameraden.
Rund 1 500 Fotografien haben Inge Voigt-Köhler und Diethelm Knauf in den drei ledergebundenen Alben gefunden, längst nicht alle sind beschriftet und datiert. Hinzu kam eine Festschrift von 1970, erschienen zum 50. Jahrestag der Vereinsgründung. Sie wählten aussagekräftige Aufnahmen aus und recherchierten, um das Abgebildete einzuordnen. Ergänzt wurden die Bilder durch Fotos weiterer Vereine, durch Ansichtskarten, weitere Dokumenten rund um den Bremer Kanusport und Erinnerungen von Nachfahren damaliger Kanuten.
Die Fotos künden von einem regen Vereinsleben: das Anpaddeln, der winterliche Arbeitsdienst, Sommerfeste, Regatten, Wochenendtouren und Reisen – sogar zu den Olympischen Spielen von 1936. Insgesamt 249 kommentierte Abbildungen auf 180 Buchseiten laden zu einer Zeitreise ein.
Ansichten aus Bremen-Nord
Auch wer nicht wassersport-verbunden ist, findet interessante Einblicke in das Bremen vergangener Zeiten. In dem Buch kommen Zeitzeugen zu Wort; zu sehen sind die Bremer Innenstadt, Ansichten aus Bremen-Nord, Schiffe auf der Weser, die Flussbadeanstalten und die Ausflugslokale der Umgebung. Die Fotos des Bremer Kanu-Clubs dokumentieren Vereins- und Bremer Geschichte aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel – „vom Wasser aus“.
Die Bilder vermitteln Einblicke in die Vereins- und Kanusport-Geschichte. Gleichzeitig dokumentieren sie – eigentlich eher zufällig – gesellschaftliche Aspekte und Zeitgeschichte. Was war wichtig genug, um fotografiert zu werden? Das Fotografieren war vor 100 Jahren ein kostspieliges Hobby. Die Motive wurden gründlich ausgewählt. „Schnappschüsse“ waren die Ausnahme, meistens wurden Personen für ein Foto sorgfältig arrangiert.
Der Bremer Kanu-Club (BKC) wurde am 22. März 1920 gegründet. Seine Heimat war das Forsthaus im Bürgerpark. Der Verein wuchs und war schon bald über Bremens Grenzen hinaus bekannt. In ihren Kajaks und Canadiern unternahmen die Mitglieder Touren über Torfkanal, Kuhgraben und Wümme – und das meistens äußerst stilvoll. „Aus heutiger Sicht wundern wir uns vielleicht über die Kleidung der damaligen Kanuten“, schreiben Inge Voigt-Köhler und Diethelm Knauf zu einer Aufnahme aus dem Jahr 1927 (Seite 32). „Die Männer stiegen mit weißem Hemd und Jackett oder Weste, seltener Pullover, aber alle mit Krawatte oder Fliege ins Boot, die Frauen mit Kleidern und Hüten.“ Später kamen dann weiße Vereinshemden „mit den der Bremer Speckflagge nachempfundenen rot-weiß karierten Armabschlüssen“ auf.
Im Kapitel „Weserabwärts – Von Bremen Richtung Unterweser“ sind erste Nordbremer Impressionen zu sehen: Unterhalb der Vegesacker Weserpromenade lud der Sandstrand zum Anlanden ein. Und am Wochenende 8. und 9. Juni 1929 fand im Vegesacker Hafen die Flottenschau des Wassersportverbandes „Weserkreis“ statt. Das Foto auf Seite 25 zeigt das Vegesacker Hafenbecken: Dicht an dicht liegen festlich geschmückte Segelboote, Jollen, kleine Jollenkreuzer und Motorboote. Der „Weserkreis“ war ein Zusammenschluss mehrerer Vereine, er organisierte neben der Flottenschau auch Gemeinschaftsfahrten und Regatten.
Ein Foto aus dem Jahr 1939 trägt den Titel „Zehnerfahrt zum Schönebecker Sand“. Eine Gruppe junger Männer und Frauen macht eine Paddelpause im hohen Gras. Sie lehnen an ihrem umgedrehten Canadier, im Hintergrund sind Gebäude der Bremen-Vegesacker Fischereigesellschaft zu sehen. Auch Begegnungen mit großen Dampfern werden dokumentiert. „Eine solche Begegnung ist für Kanuten nicht ungefährlich“, heißt es im Buch. „Fährt man zu nah am Schiff, kann man durch die Bugwelle aus dem Kurs gebracht werden und möglicherweise kentern. Fährt man zu nah am Ufer, sitzt man durch den Sog plötzlich auf dem Trockenen, um anschließend von den heranrollenden Schiffswellen umgeschlagen zu werden.“
Auf Seite 53 ist ein solches Zusammentreffen von Groß und Klein zu sehen, bei dem die Kanuten jedoch ungefährdet ganz nah im Fahrwasser passieren konnten: Der Passagierdampfer – möglicherweise die „Europa“ – hat beim Bremer Vulkan festgemacht. Der Ritzenbütteler Sand gegenüber der Vulkan-Werft und der Bremer Wollkämmerei war ein bevorzugtes Wochenend- und auch Urlaubsziel der Bremer Kanuten bis in die 60er-Jahre hinein. Das schöne Fleckchen Erde war „schnell erreichbar, preiswert und ohne Reglementierungen eines Campingplatzes“. Mit ab- und auflaufend Wasser konnten Touren verschiedener Länge unternommen werden. Ein Foto aus dem Jahr 1938 zeigt junge Leute, die am Weserufer die Sommersonne genießt. In Wassersportkreisen, so heißt es auf Seite 54, halten sich Geschichten, dass zur Zeit der großen Arbeitslosigkeit in den 1920er-Jahren viele Kanutenfamilien Wochen oder sogar Monate auf den Sänden der Unterweser wie bei Motzen oder auf der Weserhalbinsel Elsflether Sand lebten und einen aus ihrer Gruppe, der einen Motor an seinem Boot hatte, in die Stadt schickten, um am Freitag das Arbeitslosengeld für alle in der Stadt abzuholen.
Ein Kapitel ist dem Reisen gewidmet. Entfernungen mussten mit Bahn, Bus oder Lkw überwunden werden. Der Transport der Boote war eine Herausforderung. Nichtsdestotrotz fuhren die Kanuten unter anderem nach Rügen, ins Saarland, an die Mosel und sogar nach Jugoslawien und Finnland. Im Buch ist auch eine Auflistung von Fahrten-Gerichten zu finden: „Rasch zu bereiten, nahrhaft und sättigend, wohlschmeckend und doch billig.“
34 Seiten zeigen das Vereinsleben: den Arbeitsdienst, Anpaddeln und Bootsbau, Winterprogramm und vor allem auch das „gesellige Beisammensein“ mit Herrenabenden, Kohlfahrten und Kostümfesten. Doch die Zeiten änderten sich und das zeigt sich auch auf den Fotos der Kanuten: Bei einer Bootstaufe im Frühjahr 1933 recken sich erste Hände zum Hitlergruß. In den 40er-Jahren hat das Hakenkreuz den Bremer Schlüssel auf den Trikots der Wassersportler ersetzt. Das dritte Album des Kanuvereins zeigt nach dem Sommerfest 1941 noch die Porträts der eingezogenen, gefallenen und vermissten Vereinskameraden. Das Bootshaus des Bremer Kanu-Clubs wurde im Krieg zerstört und nicht wieder aufgebaut. Viele Mitglieder kehrten nach dem Krieg nicht zurück, die meisten Boote waren zerstört, verschwunden oder beschlagnahmt. Der BKC fand Unterschlupf im Wassersportheim Bremermann. In den Wirtschaftswunderjahren kehrte die Freude am Paddeln und Feiern zurück, die Fotos werden farbig. „Der Verein konnte sich aber nicht mehr zu früherer Blüte erholen und hat sich 2003 aufgelöst.“
Inge Voigt-Köhler und Diethelm Knauf haben einen ebenso informativen wie unterhaltsamen Bildband zusammengestellt. Die sorgsam recherchierten Texte und die zahlreichen Fotos laden immer wieder zu einer Zeit- und Entdeckungsreise in vergangene Jahrzehnte ein.
Das Buch und die Autoren
Diethelm Knauf, Jahrgang 1952, arbeitete unter anderem als Lehrer in Bremen und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Labor Migration Project der Universität. Von 1998 bis 2013 war er leitender Historiker und Medienpädagoge im Landesfilmarchiv Bremen und arbeitete für Radio und Fernsehen, als Kurator von Ausstellungen und hat Publikationen zu Auswanderungs- und Migrationsgeschichte sowie regionalgeschichtlichen Themen vorgelegt.
Inge Voigt-Köhler, geboren 1953, studierte Mathematik und Biologie in Bremen und arbeitete dann 20 Jahre als Lehrerin und seit 1990 in der Landesbildstelle, später Zentrum für Medien im Landesinstitut für Schule. Sie ist Wassersportlerin von Kindesbeinen an: Schwimmen, Segeln, Surfen und seit 35 Jahren Kajakfahren.
Der Bildband „Mit Stöckelschuh und Krawatte im Paddelboot“ (Edition Temmen, ISBN 978-3-8378-1058-5) ist für 19,90 Euro im Buchhandel erhältlich.