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Bundestagswahl Wahlhilfe für Menschen mit Demenz hat Grenzen

Betreuerinnen und Betreuer von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen tragen große Verantwortung - auch beim Wählen. Sie müssen die Fähigkeit zur freien Wahlentscheidung ihres Schützlings feststellen.
21.09.2021, 05:00 Uhr
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Wahlhilfe für Menschen mit Demenz hat Grenzen
Von Justus Randt

Etwa 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Demenz, in Bremen sind es nach Angaben der Demenz-Informations- und Koordinationsstelle (Diks) zwischen 13.000 und 15.000. Ein Drittel von ihnen, schätzt Ingeborg Berger, ist so stark durch die Krankheit beeinträchtigt, dass der oder die Betroffene nicht mehr lesen und schreiben kann und familiäre oder gesetzliche Betreuer hat. „Mein Mann gehört leider dazu und lebt im Heim“, sagt Ingeborg Berger (Name geändert). Als er kürzlich seine Bundestagswahl-Benachrichtigung erhielt, überlegte sie als seine Betreuerin, was zu tun sei – in ihrem Fall die Briefwahl. Aber ihr kamen Zweifel. „Da kann man doch als Betreuerin oder Vormund ankreuzen, was man für richtig hält", glaubt sie. "Da sind Betrug Tür und Tor geöffnet.“

Von unterschiedlichen offiziellen Stellen habe sie Hinweise bekommen, die ihr zu denken geben: „Ich wüsste ja vielleicht noch, was mein Mann letztes Mal gewählt hat und könne für ihn die Kreuze setzen. Oder: Gar nicht zu wählen, sei auch keine Option, das komme nur extremen Parteien zugute.“ Ingeborg Berger ist hin- und hergerissen, und ein Gedanke beschäftigt sie seither: „Ich möchte nicht wissen, wie viele Stimmen gar nicht von den Wahlberechtigten selbst stammen. So einfach kann eine Wahl im Ergebnis manipuliert werden.“ Könnte – wenn denn jemand Wahlfälschung begeht, die laut Strafgesetzbuch mit bis zu fünf Jahren Freiheits- oder mit Geldstrafe geahndet wird.

„Wenn Kinder sagen, unser Vater hat immer XYZ gewählt, das würde er vermutlich auch jetzt tun, reicht das nicht“, sagt Evelyn Temme, die die Geschäftsstelle des Wahlleiters beim Statistischen Landesamt Bremen leitet. „Wenn eine Person selbst keine Wahlentscheidung treffen kann, darf nicht gewählt werden. Wenn wir Anfragen von Angehörigen bekommen, dann sagen wir denen das auch so: Die Willensäußerung und die eigene Wahlentscheidung  müssen möglich sein.“ Die Verantwortung, das einzuschätzen, liegt bei Betreuerinnen und Vormündern.

Ingeborg Berger war erstaunt, die Wahlbenachrichtigung im Heim vorzufinden: „Weil mein Mann keine Unterschrift mehr leisten kann, hat er keinen neuen Personalausweis mehr erhalten", sagt sie. "Okay, das macht Sinn. Aber dann dürfte er auch keine Wahlbenachrichtigung mehr bekommen."

Im Allgemeinen gelte in Deutschland zwar die Ausweispflicht, sagt Karin Stroink, Sprecherin im Innenressort, „pflegebedürftige Personen, die etwa aus Krankheitsgründen nicht am öffentlichen Leben teilnehmen können oder gar betreut werden, können von dieser Regel ausgenommen werden."  Aktuell seien in der Stadtgemeinde Bremen 1557 Bürgerinnen und Bürger befreit, pro Monat würden rund 50 entsprechende Anträge beim Bürgeramt gestellt. „Grundsätzlich ist das Wahlrecht nicht an den Besitz des Ausweises gebunden.“ Deswegen erhalte jede und jeder auch ohne Ausweis eine Wahlbenachrichtigung – sofern er oder sie wahlberechtigt ist.

Bis zur Wahlrechtsänderung im Jahr 2019 seien Personen von der Wahl ausgeschlossen gewesen, die in allen Lebensbereichen auf Betreuung angewiesen sind, sagt Evelyn Temme vom Wahlleiterbüro. „Seit der Änderung dürfen grundsätzlich auch Menschen mit demenzieller Erkrankung wählen. In der Kommentierung des Wahlgesetzes  ist die Rede von geistiger Beeinträchtigung.“ Zur Ausübung  des persönlichen Rechts könne grundsätzlich Assistenz in Anspruch genommen werden – „aber nicht stellvertretend“, erläutert Temme: „Wenn jemand, der den Stift vielleicht nicht mehr sicher führen kann, sagt, wo angekreuzt werden soll, ist das legitim. Auch bei der Briefwahl zu Hause ist das okay.“

Dass die verbindliche Willensäußerung Voraussetzung zum Wählen ist, ist auch Stefanie Arndt-Bosau klar. Soweit die Sozialpädagogin weiß, ist die Frage in der Beratungspraxis noch nie aufgekommen. „Bei relativ hohem Hilfebedarf spielt das eine eher untergeordnete Rolle. Sie machen es halt irgendwie.“ Bei der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen (LAGS) sind keine Probleme mit der Wahlassistenz bekannt.

„Mein Eindruck ist, dass die Betreuer alles tun, um die Freiheit der Entscheidung zu wahren“, sagt LAGS-Geschäfts- und Beratungsstellenleiter Gerald Wagner. „Wir unternehmen alles, um Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren für ihre Belange, dazu gehört auch das Wählen.“ Just am Dienstag gab es für die Bewohnerinnen und Bewohner einer betreuten Einrichtung Informationen zum Thema – mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung und der LAGS. "Man muss das Thema Willensbildung auf dem Schirm haben, da ist noch nicht alles erreicht, was möglich ist", sagt Christina Nerlich-Bronowicki, Leiterin des ambulant begleiteten Wohnens der Inneren Mission. Zum Programm gehörte auch der Übungsbesuch eines Wahllokals.

Zur Sache

Wahlrecht für fast alle

Jede und jeder darf wählen, grundsätzlich. Das regelt das Bundeswahlgesetz. Mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 2019 wurden bis dahin geltende Ausschlussgründe für verfassungswidrig erklärt. Der Ausschluss betraf Menschen, die in allen Angelegenheiten betreut werden, und Personen, die sich aufgrund gerichtlicher Anordnung wegen einer seelischen Störung in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden. Nach wie vor gilt: Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist, wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt. Das Wahlrecht kann gerichtlich befristet aberkannt werden. Beispielsweise dann, wenn jemand verurteilt worden ist wegen Abgeordnetenbestechung, Wahlbehinderung und Fälschung von Wahlunterlagen, Landesverrats und Offenbarung von Staatsgeheimnissen, der Vorbereitung eines Angriffskrieges und Hochverrats gegen den Bund.

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