150 Jahre hat die Kastanie gestanden, jetzt soll sie weg. Die Krone ist es schon. Arbeiter mit Motorsäge haben sie gekappt. Gefällt wird in Etappen. Heute die Äste, morgen der Stamm. Der Baum, sagt Matthias Semela, ist stattlich: an die 30 Meter hoch. Und schwer geschädigt. Schwefelporling, Austernseitling, Hallimasch – der Mann vom Umweltbetrieb hat die Pilze überall im Holz entdeckt. Es ist so brüchig, dass die Kastanie auseinanderzubrechen droht. Darum wird sie gefällt. Wie etliche andere Bäume im Bremer Norden auch.

Matthias Semela überwacht den Einsatz. Seine Männer arbeiten in 30 Metern Höhe.
An diesem Morgen sind sie zu fünft im Einsatz. Zwei Männer sichern unten die Straße, zwei stehen oben im Korb des Steigers und sägen. Semela, Bezirksmeister beim Umweltbetrieb, überwacht die Arbeiten. Die Äste krachen in einem Tempo auf den Boden, als würden sie vom Himmel regnen. Zack, zack muss es gehen. Die Fällsaison, die im Oktober begonnen hat, endet Mitte nächster Woche. Semela sagt, dass ab Anfang März nur noch mit Sondergenehmigung gearbeitet werden darf.
Heute und morgen sind sie am Raschenkampsweg in Lesum, danach an der Gärdesstraße in Vegesack – und dann irgendwo sonst im Bremer Norden. Wo genau, weiß Semela nicht aus dem Kopf. Er weiß nur, dass sie bisher jeden Tag gesägt haben und noch die nächsten Tage sägen werden. Es gibt mehr zu tun in dieser Fällsaison, weil es mehr Stürme gab als in den vergangenen Jahren. So viele, dass noch nicht mal alle Schäden des ersten Orkantiefs im September beseitigt sind.
319 Bäumen wurden in dieser Saison gefällt
Das Team am Raschenkampsweg ist nicht das einzige, das jetzt im Norden der Stadt Bäume fällt. In Pellens Park ist zeitgleich ein anderes im Einsatz, um Birken und Buchen zu beseitigen, die erst Sturmtief „Sebastian“, dann „Xavier“ umknicken ließ. Kerstin Doty hat es genau ausrechnen lassen, wie viele Bäume vor zwei Jahren beseitigt wurden – und wie viele in dieser Saison im Bremer Norden beseitigt werden. Die Sprecherin des Umweltbetriebs kam 2016 auf 195 Fällungen, diesmal sind es 319.
Die Männer sind mit der ersten Kastanie am Raschenkampsweg für heute fertig – nur ihr Stamm mit drei Gabelungen steht noch. Jetzt kommt die nächste Baustelle. Auch eine Kastanie, sie steht zwei Bäume weiter. Und wie im ersten Fall hat auch dieser nichts mit einem Sturm-, sondern einem Pilzschaden zu tun. Wieder spricht Bezirksmeister Semela von Schwefelporling, Austernseitling und Hallimasch. Wieder krachen Äste auf Gehweg und Fahrbahn. Ein Häcksler macht aus ihnen Rindenmulch.
Manchmal bleiben Passanten stehen. Sie schauen, sagen aber nichts. Die Arbeiter kennen es auch anders. Semela erzählt von verbalen Auseinandersetzungen, von Beschimpfungen und Drohanrufen bei seinen Männern zu Hause. Die Namen seiner Leute sind deshalb Geheimsache. Mal, sagt er, sind Anwohner wütend, wenn ein Baum gefällt wird, mal sind sie sauer, wenn einer nicht gefällt wird. Der Bezirksmeister zuckt mit den Schultern: „Es ist egal, was wir machen – es gibt immer jemanden, den unsere Arbeit stört.“
Im Frühjahr wird nachgepflanzt
Nach seinen Worten halten sich die Baumbefürworter und -gegner die Waage. Wer zu welchem Lager gehört, weiß Semela meistens dann, wenn er die Adressen liest. „Anwohner, die einen Straßenbaum unmittelbar an ihrem Grundstück haben, sind in der Regel froh, wenn er wegkommt, weil er Dreck macht – anders als deren Nachbarn, die um ihn kämpfen, weil sie ihn schön finden.“ Kerstin Doty sagt, dass das Grün in einer Stadt seit jeher ein emotionales Thema ist. Verändert hat sich für die Sprecherin des Umweltbetriebs allerdings die Vehemenz, mit denen die einen wie die anderen mittlerweile vorgehen.
Wer einen Baum weghaben will, hilft ihr zufolge schon mal mit Chemikalien nach, um ihn zum Absterben zu bringen. Und wer ihn retten will, droht nicht bloß mit Anwälten, sondern schaltet sie auch ein. Semela sagt, dass es immer wieder Menschen gibt, die glauben, es besser zu wissen als die Kontrolleure des Umweltbetriebs – und behaupten, dass diese Eiche oder jener Ahorn gesund sei, obwohl sie krank sind. „Die Leute sehen den Baum nur von außen, wir von außen und innen.“ Bei den Kastanien am Raschenkampsweg kann man die Pilze sowohl auf der Rinde als auch im Holz sehen.
Immer wieder sind sie kontrolliert worden. Wie oft, kann Semela auf seinem Tabletcomputer ablesen: „Allein seit 2012 acht Mal.“ Zuletzt sind die Prüfabstände immer kürzer geworden – bis der Bezirksmeister schließlich entschied, dass die beiden Bäume nicht mehr sicher stehen und für Fußgänger sowie Autofahrer gefährlich werden könnten. Erst war es nur ein Pilz, dann kam der zweite, später der dritte. Auch das ist in seinem Mobilrechner gespeichert. Genauso wie ihre Standorte. Semela tippt mit dem Finger auf den Bildschirm, der jetzt eine digitale Karte zeigt: hier die Straße, dort die beiden Bäume, die gefällt werden. Sie haben die Nummern 4697 und 4624. Demnächst werden dort andere Zahlen stehen – die der neuen Kastanien. Im Frühjahr ist der Bezirksmeister wieder am Raschenkampsweg. Diesmal zum Nachpflanzen.
Digitales Baumkataster
Der Umweltbetrieb hat ein Problem: Während sich der Aufwand der Grünpflege erhöht, verringert sich seit Jahren die Zahl der Beschäftigten. Im Bremer Norden gibt es momentan 54 Frauen und Männer, die sich um die Bäume und Büsche der Stadt kümmern. 2008 waren es noch zehn mehr. Um weiterhin das Pensum schaffen zu können, setzt der Umweltbetrieb unter anderem auf ein digitales Kataster. Statt die Ergebnisse einer Baumkontrolle auf Zettel einzutragen, die später von Mitarbeitern in ein elektronisches System übertragen wurden, geben die Prüfer die Resultate inzwischen vor Ort in mobile Rechner ein. Vor Jahren hat der Umweltbetrieb damit begonnen, die 70.000 Straßen- und 220.000 Parkbäume in der Stadt digital zu erfassen. Rund ein Drittel davon stehen im Bremer Norden. Dort sind bisher 21.200 Bäume in das Kataster aufgenommen worden – vor allem solche, die für die Verkehrssicherheit relevant sind: Straßenbäume. Wann die Digitalisierung abgeschlossen sein wird, ist unklar. Der Umweltbetrieb rechnet in Jahren. Bisher wurde eine Million Euro für das Projekt ausgegeben.