Burglesum. In diesem Jahr liegen die grausigen Geschehnisse genau 80 Jahre zurück: „Es waren keine alten Kämpfer der Partei oder SA, die in der Nacht des 9. Novembers 1938 mit 80 Mann aufbrachen und am Ende drei Menschen in Burgdamm und Platjenwerbe ermordeten“, sagt der Bremer Historiker Achim Saur vom Geschichtskontor im Kulturhaus Walle Brodelpott. Es seien „ganz normale Männer“ gewesen. Im früheren Haus des Lesumer Bürgermeisters, das heute das Domizil des Heimatvereins Lesum ist, begann das fatale Geschehen mit einem Telefonanruf. Am Ende standen die Morde an dem Arztehepaar Goldberg in Burgdamm und dem Monteur Leopold Sinasohn in Platjenwerbe. Eine szenische Lesung beschäftigt sich mit den Ereignissen in dieser Nacht. Sie wird am 8. Februar im Heimathaus gezeigt.
Achim Saur sagt über die Täter von damals: „Die Männer gehörten zu einem sogenannten SA-Reservesturm im beschaulichen Örtchen Lesum. Vor 1933 waren diese Männer Mitglieder in einem konservativen Traditionsverein ehemaliger Soldaten des Ersten Weltkriegs, dann kam die Zwangsvereinigung mit der SA. Diese Arbeiter, Handwerker und Beamten, darunter auch Lehrer, stammten aus der Mitte der Gesellschaft.“
Besagte „80 ganz normale Männer“ – Durchschnittsalter über 40 Jahre, Lehrer, Handwerker oder Postbeamte, die meisten davon Familienväter – waren in der Nacht des 9. Novembers 1938 auf dem Alarmplatz in Lesum zusammengetrommelt worden. Ihr Ziel: das Haus der jüdischen Familie Goldberg. Der Mob marschierte zum Haus des Arztehepaares, umstellte es und erschoss Martha und Adolph Goldberg. Wie konnte es damals zu diesem Mord kommen? Der 68-jährige Dr. Goldberg hatte seinen Praxisbetrieb aufgegeben und war nur noch bei Unfällen oder aus freundschaftlichen Gründen als Arzt tätig. Er war in Burgdamm sehr angesehen. Keiner der Männer hatte sich vorher als SA-Schläger hervorgetan, einige von ihnen waren ehemalige Patienten von Goldberg und einer – ein Postbeamter – hatte kurz zuvor sogar noch das Telefon des jüdischen Arztehepaares repariert.
Achim Saur hat auf Basis der Ermittlungsakten aus der Nachkriegszeit das Geschehen minutiös rekonstruiert. Dabei ist die szenische Lesung „80 ganz normale Männer“ entstanden, die auch Vortragselemente enthält. Saur zeigt darin unter anderem, welche Freiheit zu eigenen und selbstständigen Entscheidungen die Truppführer damals tatsächlich besaßen. Und welche Bedeutung individuelles Handeln in jener Nacht hatte. Saur: „Die Akten sind voll von makabren Szenen in einem chaotischen Entscheidungsprozess.“
Da gibt es beispielsweise die Telefonistin, die die Gespräche mithört, in denen es darum geht, „die Juden sollen weg“, sie nimmt ein fatales Missverständnis an. Es gibt immer wieder Nachfragen, welche die geplante Aktion infrage stellen. Da ist der Truppführer, der es hinnimmt, dass ihn sein Unterführer damit abspeist, er könne seine Männer zu dieser nachtschlafenden Zeit nicht mehr aus den Betten holen. Und es gibt seinen Gegenpart, der alle Hebel in Bewegung setzt, seine Leute zum Mord zu treiben.
„Das Besondere in Lesum ist die Tatsache, dass sich ein ganzer Sturm an der Aktion beteiligt, nicht lediglich zwei Männer wie bei den Bremer Morden. Die Ermittlungen zeigen, sie alle wussten, welch tödliche Absicht ihr Marsch verfolgte“, so Saur. Einer habe gesagt: „Als wir erst marschierten, traute ich mich nicht mehr, aus der Reihe auszutreten.“
Der Schütze, der das Ehepaar Goldberg erschossen hat, soll später ausgesagt haben: „Ich habe zu beiden Personen gesagt, dass es mir leidtut, eine so schwere Pflicht erfüllen zu müssen. Frau Goldberg hat darauf erwidert, ich solle meine Pflicht ruhig tun, nur bitte sie, dass ich richtig treffe. Da habe ich gedacht, dass man lange nach einer nationalsozialistischen Frau suchen müsse, die eine solch vorbildliche Haltung zeigt.“
Klaus-Martin Hesse vom Heimatverein Lesum erläutert: „Das Besondere aus Lesumer Sicht ist, dass die Vorgänge unmittelbar an ihren Ausgangsort ,zurückgeholt' werden, denn der damalige verantwortliche Lesumer Bürgermeister und SS-Sturmhauptführer Fritz Köster wohnte damals im heutigen Heimathaus und die folgenschweren Telefonate dürften hier geführt worden sein.“
Das Thema sei im Stadtteil bis heute „schwer verdaulich“, weil eben viele „ganz normale Männer“ aktiv oder passiv beteiligt waren. Es gehe darum, dafür zu sensibilisieren, „wie es zu solch unvorstellbaren Grausamkeiten kommen kann und welche Eigendynamik sich entwickeln kann, wenn niemand das nötige Rückgrat beweist.“