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Werder-Aufstieg Bremen außer Rand und Band: Eindrücke eines verrückten Nachmittags

Das Viertel und Peterswerder im Ausnahmezustand: Zuerst die große Spannung – wird Werder den Aufstieg schaffen? Dann der unbeschreibliche Jubel nach dem Sieg. Ein Bericht aus der Partyzone.
15.05.2022, 22:44 Uhr
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Bremen außer Rand und Band: Eindrücke eines verrückten Nachmittags
Von Jürgen Hinrichs

Und dann gibt's kein Halten mehr. Sie hatten bereits beim zweiten Tor gefeiert, als wär's der Aufstieg. Doch nun, als es tatsächlich so weit ist, brechen alle Dämme. Die Fans vorm "Wirtshaus" in Peterswerder liegen sich in den Armen, sie schreien ihre Freude heraus, ein großer Tumult. Wunderbares Werder! Doch erstaunlich, es dauert keine zehn Minuten, da haben sich die vielen Menschen fast alle davongemacht. Wo sind sie nur hin?

Eine Fahrt mit dem Rad durchs Viertel gibt die Antwort. Früh stauen sich die Straßenbahnen, nichts geht mehr, die Leute steigen aus und suchen sich zu Fuß ihren Weg. "Schiet", sagt ein Mann mit dem Dialekt des Ostfriesen, "jetzt schaffen wir es nicht mehr zum Zug." Die Frau an seiner Seite kann so einen Kleinmut nicht gebrauchen – "was willst Du, dafür ist Werder aufgestiegen". Der Mann schweigt, sie hat ja recht, wird er denken.

Die Bahnen kommen nicht voran, weil ein Stück weiter wie wild gefeiert wird. Die Sielwallkreuzung ist voll von Menschen, ein Meer von Fahnen, Gesänge, pure Ausgelassenheit. Niemand, der einschreitet, und das wäre auch falsch. Zwar ist der Verkehr blockiert, die Zufahrten zur Kreuzung sind dicht, aber herrje, was soll's. Werder!

Der Sonntag mit seinem Prachtwetter ist noch jung, da sind im Viertel und rund ums Stadion schon Scharen von Fans unterwegs. Die Trikot-Dichte ist beachtlich, mit Namen drauf, die an ehemalige Spieler des SV Werder erinnern, an Diego, Arnautovic, Gebre Selassie und Pizarro natürlich, den mögen sie als Aufschrift am liebsten. Den Kneipenwirten geht es weit vor Mittag bereits blendend, sie machen das Geschäft des Jahres. Das Viertel vibriert, meist vor Zuversicht – doch egal, wo man hinhört, immer ist auch ein banges Gefühl dabei: Hauptsache, die Mannschaft spielt nicht auf Unentschieden! Hauptsache ein frühes Tor!

Werder-Fanmarsch bewegt sich wie eine Walze vom Marktplatz durch das Viertel

Zwischen den Grün-Weißen sind auch ein paar Rote, Anhänger von Jahn Regensburg. Familie Lehmeier, Mutter, Vater und erwachsener Sohn, sind für zwei Nächte nach Bremen gekommen, um die Stadt zu besichtigen und das Spiel anzuschauen. "Ich hoffe auf ein Unentschieden", sagt der Vater, "das hilft beiden Vereinen." Für Regensburg geht es unter anderem noch um die Höhe der Fernsehgelder in der nächsten Saison, jeder Platz in der Tabelle zählt. Und Werder? "Die sollen von mir aus aufsteigen", sagt die Mutter. Die Lehmeiers finden den Verein okay, "allemal sympathischer als den HSV".

Das Trio spaziert in vollem Vereins-Ornat zum Marktplatz, wo just in diesen Minuten der Marsch der Fans begonnen hat. Vor dem Rathaus liegt ein Meer von Flaschen, es sieht so aus, als hätte die große Aufstiegsfeier, die für den nächsten Tag geplant ist, bereits stattgefunden. Der Marsch – ist fulminant. Rund 12.000 Teilnehmer, schätzt die Polizei. Wie eine Walze bewegen sie sich vom Marktplatz durch das Viertel und zum Stadion. Da ist kein Platz für nichts und niemand mehr, Fußgänger und Radfahrer inklusive. Werder-Rufe aus abertausend Kehlen. Die Kraft der Masse – etwas unangenehm, wenn sie sich auch so entlädt: Wo es einen Baum gibt, wird er von den Männern angepinkelt.

Fußball kann wie eine Droge sein, und der Alkohol gehört offenbar dazu. Wenn es sehr warm ist, noch einmal mehr, "die Leute haben Durst", sagt Holger. Er profitiert davon, jedes Mal, wenn Werder zu Hause spielt. Der 59-Jährige sammelt Flaschen ein, die andere wegwerfen oder einfach stehen lassen. Er hat sich an der großen Treppe postiert, die vom Osterdeich zum Stadion hinabführt. "Wer da reingeht, 100 Euro für eine Karte zahlt, dem ist das Flaschenpfand egal", glaubt Holger, "ich kann mir den Eintritt nicht leisten." Vor ihm stehen zwei große Taschen, die randvoll sind. Er wird das Leergut wegbringen und wiederkommen. Es ist der große Tag der Flaschensammler, manche spezialisieren sich bei dem Überangebot auf Dosen und Plastikbehälter, weil die am meisten bringen.

100 Euro für die Karte – schön wär's, und möglicherweise hätten sie unter solchen Umständen auch zugeschlagen. André ist mit seinen Söhnen Niko und Lukas aus dem ostfriesischen Moormerland spontan nach Bremen gefahren, sie wollten beim Fanmarsch dabei sein und spekulieren jetzt auf Eintrittskarten fürs Spiel.

Der elfjährige Niko hält ein Schild hoch, er hofft auf Angebote, und tatsächlich, sie kommen, aber was für welche: "In einem Fall sollten wir 210 Euro zahlen", erzählt der Vater, "ich dachte zuerst, okay, für drei Karten ist das in Ordnung, der Verkäufer meinte den Preis aber pro Stück." Ausgeschlossen, nicht nur wegen des Geldes: "So etwas unterstütze ich nicht." 150 Euro je Platz waren ihm auf dem Schwarzmarkt auch zu viel, zumal sie im Gästeblock gesessen hätten. Doch was nun? Im Beach-Club gucken? "Die haben wegen Überfüllung geschlossen", weiß André. Mal sehen, irgendetwas wird sich finden, und ein Erlebnis haben sie ja schon in der Tasche: den Marsch durchs Viertel, eine Wucht, sagen alle drei.

In einem Fall sollten wir 210 Euro zahlen. Ich dachte zuerst, okay, für drei Karten ist das in Ordnung, der Verkäufer meinte den Preis aber pro Stück.
Ein Werder-Fan über seine Erfahrungen auf dem Ticket-Schwarzmarkt

Das erste Tor im Spiel, das gerade angepfiffen worden ist, zählt nicht. Abseits. Doch wer soll das im Vereinslokal an Platz 11 so schnell wissen, und deshalb schreien sie sich vor Begeisterung die Seele aus dem Hals, ein ohrenbetäubender Lärm, der sofort abebbt, als an den Fernsehern der Linienrichter in Bild kommt. Er hat die Fahne gehoben, ein knappes Abseits, aber korrekt, auch wenn die Fans meckern, das gehört dazu. Gut 100 Leute, die dann noch einmal richtig aus sich herausgehen, als für Werder ein Tor fällt, das gewertet wird. Die Fans springen auf, lassen die Stühle umkippen, sie singen und klatschen, umarmen sich. Läuft!

Bei Schons am Hulsberg geht es ruhiger zu. Ältere Herren, die in dem Imbiss ihr Bierchen zischen und dabei gemütlich Radio hören: Konferenzschaltung aus der 2. Liga. Einer von ihnen erzählt, dass er vergangene Nacht schlecht geträumt hat: "Ich bin um 4.20 Uhr aufgewacht, da stand es 2:1 gegen Werder." Der Mann nimmt das als Omen, "ich hab' kein gutes Gefühl". Doch dann dieser Moment in der zweiten Halbzeit, als Werder das nächste Tor schießt. Zuerst hört man es draußen, am Jubel, der vom Stadion herüberschallt. Die Herren am Tresen bekommen es mit Verzögerung am Radio mit. Keine Spur mehr von Müdigkeit nach unterbrochener Nacht: Der Mann, dem das Spiel selbst nach der Führung von Werder nicht geheuer war, tritt vor die Tür, breitet die Arme aus und ruft laut das Ergebnis: 2:0! Es bleibt dabei, bis zum Schluss. Aufstieg!

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