Noch heute lächelt ihr freundliches Gesicht – gedruckt im KURIER AM SONNTAG – vielen Gästen der Gastronomie im Viertel entgegen. Die Wirte hätten den großen Artikel, der vor mehr als einem halben Jahr erschienen ist, aus Solidarität an die Wand gepinnt, so erzählt es Leonie Degenkolbe. Für sie hat sich seitdem viel verändert. Kurz nachdem ihr Porträt erschienen war, verhängte die Koordinatorin der "Zeitschrift der Straße", einem Sozial-Projekt der Inneren Mission, eine Sperre gegen die Verkäuferin der Zeitschrift.
Offizielle Begründung: Wenn Degenkolbe öffentlich mache, dass es im Viertel, aber auch am Bahnhof zu Problemen komme, werde ihr die Verkaufslizenz entzogen. So kam es dann auch. Bis zum heutigen Tag hat Leonie Degenkolbe ihren Verkäuferinnen-Ausweis nicht wieder zurückerhalten. Ihre Stammkundschaft habe darauf ziemlich schockiert reagiert, erzählt sie. Man wolle erreichen, dass sie von ihrem angestammten Platz zwischen Berliner Straße und Sielwalleck verschwinde, sagt sie. Leonie Degenkolbe riet Passanten, die sich bei ihr darüber beschwerten, dass alle paar Minuten ein anderer Verkäufer die Zeitung anbiete und dabei fordernd, aufdringlich und bisweilen sogar aggressiv auftrete, sich an die Innere Mission zu wenden. Und sie informierte selbst die Innere Mission darüber, dass es durch besagte Verkäufer immer wieder zu rigorosen Vertreibungen von angestammten Plätzen komme. Das mussten sie und einige ihrer Kollegen erfahren.
Beschwerden ans Ortsamt
Beschwerden, die ohne Degenkolbes Zutun übrigens auch im Ortsamt Mitte/Östliche Vorstadt landeten und Thema in den Beirats- und Ausschusssitzungen waren. Die Innere Mission wiegelte jedoch stets ab. Auch ein Rassismus-Vorwurf stand im Raum, weil viele Verkäufer aus Osteuropa stammten.
Für Leonie Degenkolbe ist es in diesem Fall eine Frage des wirtschaftlichen Überlebens, die von einem Tag zum anderen über sie hereingebrochen ist. "Die Sperre hat mir echt den Boden unter den Füßen weggezogen", sagt sie. Momentan müsste sie, so erzählt sie es, von 250 Euro im Monat leben. Das Weihnachtsfest sei sehr traurig für sie gewesen, berichtet sie. Sie hatte kein Geld, um ihre Kinder zu besuchen, die in einer Wohneinrichtung außerhalb von Bremen leben. Geschweige denn das Geld, ihnen Geschenke zu kaufen. Sie sei verzweifelt, werde von anderen Verkäufern immer noch gestalkt und bedroht.
2020 noch erfolgreich
In der ersten Corona-Weihnacht war alles noch ganz anders. Durch ihre offene Art wurde Leonie Degenkolbe im Verlauf des Jahres 2020 zu einer der erfolgreichsten Verkäuferinnen der "Zeitschrift der Straße". Mehr als 4000 Zeitungen habe sie in dem Jahr verkauft, schätzt sie. Wer Degenkolbe schon einmal begegnet ist, der weiß, dass sie immer freundlich mit den Passanten redete und ihnen das Produkt vorstellte, ohne aufdringlich zu sein. Im Januar 2020 hatte sie über den Verkauf der "Zeitschrift der Straße" damit begonnen, sich ein neues Leben aufzubauen. Und das ist genau Sinn und Zweck des sozialen Projektes der Inneren Mission. Die Tätigkeit als Zeitungsverkäuferin habe ihrem Leben eine Struktur gegeben, betont sie. "Die Arbeit hat mir richtig gutgetan, ich habe dadurch viel Selbstbewusstsein bekommen. Und die freundlichen Leute haben mir im Viertel so viel Kraft gegeben".
Zuvor hatte sie eine harte Phase hinter sich, geprägt von Krankheit und mehreren Suizidversuchen. Nach dem ersten hatte sie das Sorgerecht für ihre beiden Töchter verloren. Ihr Ziel ist es, weiterhin stabil zu bleiben, damit sie ihre Kinder wieder zu sich holen kann. Nun habe sie von Seiten der Verantwortlichen bei der "Zeitschrift der Straße" eine Nachricht erhalten: Sie könne ihren Ausweis wieder zurückbekommen, allerdings nicht für einen Einsatz im Viertel, sie könne die Zeitungen ja in Gröpelingen verkaufen. Die Stadt ist inzwischen in Farbzonen eingeteilt worden, damit nicht zu viele Verkäufer im lukrativen Viertel unterwegs sind, auch wurde bis auf weiteres die Vergabe von Lizenzen an osteuropäische Verkäufer gestoppt. Das hat die Situation inzwischen sichtlich entspannt.
Von der Wohnungslosenhilfe heißt es auf Anfrage zur Sperrung Leonie Degenkolbes: Grundsätzlich erteile man zu Einzelfällen keine Auskünfte an Dritte. Und weiter: "Zu der Beschwerdelage haben wir ausführlich Stellung bezogen, Maßnahmen entwickelt und initiiert". Auch Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) habe die Situation bewertet und eine Stellungnahme abgegeben.