Erik Bernsen hat genaue Vorstellungen davon, wo er nach dem Studium arbeiten und leben möchte. Das Lübecker Figurentheatermuseum hat es ihm besonders angetan. Dort würde er am liebsten mit selbst gebauten Handpuppen Führungen durch das Museum anbieten. Wenn Bernsen über diesen Zukunftswunsch und seine Leidenschaft zu Puppen spricht, merkt man, wie er aufblüht – und wie viel er darüber weiß. „Puppen haben mir sehr geholfen, als ich selbst noch nicht so gut mit anderen Menschen interagieren konnte“, sagt der 21-Jährige. Bernsen ist seinem großen Traum in diesem Herbst ein Stückchen nähergekommen. Er gehört zu den drei Bremer Studierenden mit Lernbeeinträchtigung, die zum aktuellen Wintersemester ein Studium an der Hochschule für Künste im Sozialen (HKS) in Ottersberg begonnen haben.
Dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen studieren, ist an den meisten deutschen Hochschulen bisher nicht vorgesehen. Sie arbeiten nach einer schulischen Ausbildung häufig in Werkstätten und haben es schwer, eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Ändern will das unter anderem das geförderte Pilotprojekt „Artplus“, initiiert vom Hamburger Verband Kunst und Behinderung Eucrea. Ziel des aktuell in den Bundesländern Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen stattfindenden Programms ist, neue Möglichkeiten der beruflichen Qualifizierung für Kreative mit Behinderung zu schaffen.
"Paradigmenwechsel im Hochschulbetrieb"
Inzwischen haben zwar schon einige Hochschulen bundesweit Gaststudierende mit geistigen Beinträchtigen aufgenommen. Die HKS Ottersberg geht jedoch einen Schritt weiter: Als eine der ersten Hochschulen in Deutschland ermöglicht sie ein reguläres Studium. Die Bremer bestanden die Begabten-Prüfung im Sommer, die ein Studium ohne Abitur ermöglicht. Eingeschrieben sind sie für das Studienfach „Tanz und Theater im Sozialen“, ihr Ziel ist wie bei ihren anderen Kommilitonen der Bachelor-Abschluss. Zuvor waren die Bremer Studierenden im Sommersemester bereits Gasthörer. „Der Weg, den wir mit der HKS gehen, stellt einen Paradigmenwechsel im Hochschulbetrieb dar“, sagt Angela Müller-Giannetti, Projektleiterin bei „Artplus“.

Erik Bernsen (links) und Ole Bramstedt sind seit neustem Studenten an der HKS Ottersberg.
Neben Erik Bernsen gehören zu den Bremer Studierenden der HKS Amelie Gerdes und Ole Bramstedt. Sie treffen sich von nun an mehrmals in der Woche, um selbstständig mit dem Zug nach Ottersberg zu fahren. Vom Bahnhof geht es für sie mit dem Taxi weiter. Alle drei haben schon Erfahrung im künstlerischen Bereich gesammelt, etwa im Blaumeier-Atelier in Walle, wo Menschen mit und ohne Behinderung oder Psychiatrieerfahrung in den Bereichen Theater, Musik und Malerei zusammenkommen oder im Tanzwerk.
Bremer erhoffen sich mehr Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit
Bramstedt hat im vergangenen Jahr sogar schon im Tatort mitgespielt. Vom Studium erhofft sich der 21-Jährige noch mehr Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit. Er könne sich gut vorstellen, in Zukunft Theater – oder Tanzgruppen auszubilden. Schon jetzt arbeite er nebenbei an einer Grundschule im sozialpädagogischen Bereich. „Und es ist schön, unterschiedliche Menschen an der Hochschule kennenzulernen“, sagt er. Die ersten Vorlesungen haben die drei inzwischen hinter sich gebracht, in der Einführungswoche haben die Studierenden einen Teil der Mensa umgestaltet, erzählt Bramstedt. „Am Anfang konnte ich mir nicht vorstellen, wie wir das schaffen sollen, doch am Ende dachte ich, wir können die Uni auf links drehen“, scherzt er.
An dem Satz ist etwas Wahres dran. Die HKS hat sich zum Ziel gesetzt, inklusive Hochschule zu werden und dauerhaft Menschen mit Beeinträchtigung eine künstlerische Ausbildung zu bieten. „Zum einen möchten wir Menschen mit Assistenzbedarf die Möglichkeit eines künstlerischen Studiums anbieten und zum anderen möchten wir Studierende ohne Behinderung dahingehend qualifizieren, dass sie Menschen mit Assistenzbedarf während des Studiums und darüber hinaus kompetent künstlerisch begleiten können“, sagt Gabriele Schmid, akademische Hochschulleitung der HKS Ottersberg.
"Mehr als die Schublade, in die man sich steckt"
Unterstützung in ihrem neuen Lebensabschnitt erhalten Bernsen, Bramstedt und Gerdes von ihren Eltern. Die Koordinierung der Fahrten und Kursteilnahmen erfordere zwar viel Organisation, doch das nehmen sie gerne in Kauf, sagt Eriks Mutter Christine Bernsen. „Gerade während Corona war lange nicht klar, was aus ihren Träumen wird“, sagt sie. „Ihnen ist es wichtig zu zeigen, dass die viel mehr sind als die Schublade, in die man sie vielleicht steckt.“
Kreative mit Behinderungen bilden in der deutschen Kulturlandschaft noch immer eine Ausnahme, sagt Müller-Giannetti von „Artplus“. Ein entscheidender Grund dafür sei, dass kreative und künstlerisch talentierte Menschen mit Behinderungen kaum Angebote für eine künstlerische berufliche Qualifikation finden. „Dabei ist die Nachfrage da: Theater, Filmproduktionen, Tanz-Kompanien und andere kulturelle Institutionen möchten ihre Ensembles divers besetzen, doch es fehlt an professionell ausgebildeten Kunstschaffenden“, sagt die Projektleiterin.
Gemeinsam nach Lösungen suchen
Die in Otterberg angebotenen Studiengänge haben einen hohen Praxisanteil, wissenschaftliches Arbeiten gehört aber auch dazu. Es sei eine große Herausforderung, theoretische Inhalte in eine andere Form zu übertragen.
Anfänge sind bereits gemacht. So werden im Fach Bewegungsanalyse für abstrakte Begriffe wie Kraft, Raum und Zeit passende Bilder herausgesucht. Für "viel Kraft" nehmen die Lehrbeauftragten etwa das Bild eines Gewichthebers. Für vieles aber sei noch keine Lösung gefunden, zum Beispiel wie wissenschaftliche Texte verständlich gemacht werden können. Man wolle diesen Prozess zusammen mit den Studierenden gestalten, heißt es von der HKS.

Amelie Gerdes will nach dem Studium am liebsten Schauspielerin werden.
Die ersten Einführungsveranstaltungen haben die Bremer bereits hinter sich. Einige der Inhalte kennt Amelie Gerdes bereits. Neben ihrer Schulzeit spielten Tanz und Theater für die 18-Jährige schon immer eine wichtige Rolle. „Mich interessiert daran, in andere Welten hineinschlüpfen zu können“, sagt sie. Sogar in einem ARD-Film hat sie mitgespielt, an der Seite von Alexander Held. Von dem Studium erhofft sie sich herauszufinden, welche Rollen ihr besonders gut liegen, denn am liebsten würde sie nach dem Abschluss als Schauspielerin weiterarbeiten. „Mein größter Wunsch ist es, etwas auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden“, sagt die 18-Jährige.
Wie sie in Zukunft die Leistungsnachweise erbringen, dafür wolle man individuelle Lösungen finden, kündigt Gabriele Schmid, akademische Hochschulleitung der HKS Ottersberg, an. Den jungen Menschen mit Beeinträchtigung sollen Assistierende zur Seite gestellt werden, die an der HKS studieren. Dafür sollen diese Punkte fürs Studium und künftig ein Honorar erhalten. Sieben Semester sieht das Regelstudium bis zum Bachelor vor. An der Hochschule geht man davon aus, dass die Studierenden mit Lernschwierigkeiten etwas länger brauchen könnten. Wie es auch kommen mag, die drei Bremer haben ihr Ziel klar vor Augen: „Ich habe so einen Sturkopf. Ich kann alles durchsetzen, was ich will“, sagt Amelie Gerdes.