Es klingt wie ein Kriminalthriller, aber es ist wahr. Vor 70 Jahren verschwanden 63 Männer aus einer kleinen belgischen Gemeinde und kehrten nie wieder zurück. Auf der Suche nach Antworten auf ihre Fragen landeten ihre Hinterbliebenen unter anderem in Gröpelingen. Dabei haben sich in den vergangenen Jahren enge Kontakte und sogar Freundschaften entwickelt. Ein Happy End ist das nicht. Denn die Erinnerung, sagen die Nachkommen, muss auch in Zukunft wach gehalten werden, damit sich so etwas nicht wiederholt.
In Meensel-Kiezegem gibt es einen Ehrenfriedhof, doch die Gräber sind leer. Sie stehen symbolisch für die Männer, die die Gemeinde in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieg verloren hat. Ihre Spur endet im KZ Neuengamme, zu dessen Außenlagern auch der Gröpelinger Schützenhof gehörte. Dort traf sich gerade wieder eine Gruppe von Angehörigen und Nachkommen, um ihrer Toten zu gedenken und ein Zeichen für den Frieden zu setzen.
Es klingt wie ein Kriminalthriller, doch es ist wahr: Am 30. Juli 1944 wurde der 24-jährige Gaston Merckx, der auf dem Weg zur Kirmes in einem Nachbarort war, an einer Wegkreuzung erschossen. Merckx war Spross einer Familie gut situierter Großbauern, die offen mit den Nationalsozialisten sympathisierte. Der Mord löste einen brutalen Rachefeldzug in der ländlichen 900-Seelen-Gemeinde in der belgischen Provinz Flämisch-Brabant aus. Die deutsche SS machte mit Unterstützung belgischer Kollaborateure Jagd auf alle Einwohner, die sie des Widerstands verdächtigte. 68 Männer wurden ins KZ Neuengamme und seine Außenlager verschleppt. Nur fünf davon kehrten nach dem Krieg lebend zurück. 95 Kinder warteten vergeblich auf ihre Väter.
Oktaaf Duerinckx war damals erst sechs Jahre alt, aber er kann sich noch deutlich an den 1. August 1944 erinnern. „Die Männer kamen und schlugen meine Mutter mit ihren Gewehren“, erzählt er. Als sein Vater, der 34-jährige Lehrer Ferdinand Duerinckx, seine hochschwangere Frau schützen wollte, wurde auch er brutal niedergestreckt. „Sie schlugen ihm ein Auge aus“, berichtet sein Sohn. Der Tag, als Ferdinand Duerinckx ins Gefängnis von Leuven abtransportiert wurde, sollte der Tag sein, an dem ihn seine Familie zum letzten Mal sah. Einige Tage später begleitete Oktaaf Duerinckx seine Tante, die versuchte, im Gefängnis ein Paket mit Kleidung für den Vater abzugeben. Es wurde ihr nicht gestattet. Das höhnische Lachen der Wachleute werde er nie vergessen, sagt der 76-Jährige. Ein letztes Lebenszeichen kam noch an – wie ein kleines Wunder. Ferdinand Duerinckx hatte es heimlich während des Transports nach Deutschland mit Bleistift auf die Rückseite des Etiketts einer Konservendose geschrieben und aus dem Zug geworfen. „Wir sind alle gesund und hoffen auf eine schnelle Rückkehr“, stand darauf. Erst nach Kriegsende erfuhr die Familie von einem Mithäftling, dass der Vater bestialisch im KZ Neuengamme ermordet worden war.
Von den 22 Männern, die in die Bremer Neuengamme-Außenlager Blumenthal und Gröpelingen verschleppt worden waren, überlebten nur zwei. Die Gefangenen im Schützenhof mussten auf der damals größten Bremer Werft U-Boot-Teile bauen. Detlef Dahlke kann sich an die tägliche Prozession erinnern: An den „Elendszug“, wie er sagt, der sich täglich vor aller Augen zwischen dem Lager und dem Hafen entlangzog. „Sie mussten sogar ihre Toten mitschleppen“, sagt der 87-jährige Gröpelinger. Und auch das muss ein alltäglicher Anblick gewesen sein. Innerhalb von nur drei Monaten starben 267 der Gröpelinger Häftlinge, sechs davon waren Männer aus Meensel-Kiezegem im Alter zwischen 18 und 47 Jahren. Ihre sterblichen Überreste liegen wie die von rund 1800 KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern auf dem Osterholzer Friedhof.
Die Mutter von Oktaaf Duerinckx brachte ihre vier Kinder mit einem kleinen Imbissbetrieb über die Runden. Um Unterstützung brauchte sie bei ihren Nachbarn nicht zu bitten: Auch diese hatten ja ihre Männer, Brüder, Söhne verloren, sagt Duerinckx, der 1997 Regie führte bei einem vielfach ausgezeichneten Dokumentarfilm über die traumatischen Ereignisse. „Wir wussten alle nicht, was ein Vater ist“, sagt er über seine Generation. Bei vielen Dorfbewohnern blieb die deutsche Sprache lange Zeit der Klang des Schreckens. Aber die Jungen unterschieden früh. „Wir hörten Peter Kraus und Freddy Quinn, und schauten uns die Filme mit Conny Froboess und Maria Schell an“, erzählt Duerinckx. „Wir wussten: Das waren nicht die Leute, die unsere Väter geholt haben.“
In Deutschland blieb das Kriegsdrama von Meensel-Kiezegem lange unbekannt. Die Familien allerdings hörten nie auf zu suchen, gründeten 1994 eine Stiftung und fuhren 1998 erstmals nach Neuengamme. Daraus hat sich ein regelmäßiger Kontakt mit gegenseitigen Besuchen entwickelt. Auf Initiative der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) erinnert seit 2002 eine Gedenktafel am Schützenhof an die Toten. Der Gröpelinger Raimund Gaebelein, Landesvorsitzender des VVN, hat vor fünf Jahren die Ereignisse für die Broschüre „Begegnung ohne Rückkehr“ recherchiert. Die letzte Notiz von Ferdinand Duerinckx wird in einem Museum seiner Heimatgemeinde ausgestellt, es heißt „Friedensmuseum“.
In den Jahren des regelmäßigen Kontakts und der gegenseitigen Besuche seien Bremer und Belgier zu Freunden geworden, sagt Oktaaf Duerinckx. Die Symptome einer fanatischen rechtsextremen Ideologie flackerten auch in Belgien auf, erzählt er. Die Leute von Meensel-Kiezegem werden darum nicht aufhören, an die Ereignisse des Sommers 1944 zu erinnern. Ihre Botschaft ist klar und einfach, sagt Oktaaf Duerinckx: „Krieg ist nie gut, für niemanden.“