Wer seinen Reichtum zur Schau stellen will, baut in Marmor – mit breiten, geschwungenen Treppen und Mosaiken an der Wand. Die Bremer Baumwollkaufleute jedenfalls wollten es an Prunk nicht mangeln lassen, als sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Marktplatz ihr neues Kontorhaus errichteten, höher noch als das Rathaus gegenüber. In diesem Jahr wird die Baumwollbörse 150 Jahre alt, weshalb die Pracht des alten Gebäudes am Sonnabend bei einem Tag der offenen Tür allen zugänglich sein soll.
Auf dem Gebäudewegweiser im Erdgeschoss stehen die Namen der Mieter in goldenen Lettern. Baumwollhändler sind nicht mehr darunter, statt ihrer sind Ärzte, Steuerberater, Rechtsanwälte und Versicherungsmakler in das Gebäude eingezogen. "Es gibt heute nur noch einen Baumwollhändler und ein paar Agenten in Bremen", sagt Elke Hortmeyer, Direktorin für Kommunikation und internationale Beziehungen der Baumwollbörse. In deutschen Häfen werden gerade einmal 25.000 Tonnen Baumwolle im Jahr umgeschlagen – der größte Teil davon zwar in Bremen, aber im Vergleich zu den Spitzenzeiten, als die Schuppen im Überseehafen berstend voll waren mit Baumwollballen von den Plantagen der US-Südstaaten, ist das wenig, nicht einmal ein Zehntel der einstigen Mengen. "Es gibt nur noch einige Spinnereien in Deutschland, ansonsten ist die Verarbeitung komplett nach Asien abgewandert", erklärt Hortmeyer.
Der Grund, warum Bremen in der Branche trotzdem immer noch ein Standort von Weltgeltung ist, findet sich in der vierten Etage der Baumwollbörse. In einem alten Paternoster geht es hinauf ins Labor des Faserinstituts Bremen. Hier arbeitet Tanja Slootmaker inmitten stattlicher Haufen von Baumwollproben, die auf Tischen und Rollwagen herumliegen. Sie kommen aus aller Welt nach Bremen, und zwar immer dann, wenn es Streit gibt, weil Hersteller und Kunde unterschiedlicher Auffassung über die Qualität der Ware sind. "Wir sind hier die neutrale Instanz", erklärt die physikalisch-technische Assistentin.
Gerade hat sie ihr Gerät mit einer Probe aus Brasilien gefüttert, die nun auf ihre Eigenschaften untersucht wird: Farbe, Verschmutzung, Festigkeit, Länge der Fasern, Dehnung und so weiter. Am Ende spuckt die Maschine ein Testprotokoll aus, das an die Kontrahenten verschickt wird. "Worum es in der Auseinandersetzung geht, wissen wir nicht – sollen wir auch gar nicht, denn wir sind ja neutral", versichert Slootmaker und lächelt. Ist die Baumwolle zu grau, weil Regen die Ernte verdorben hat? Sind die Fasern nicht lang genug, um zu Qualitätsstoffen verwoben zu werden? Verschmutzen Reste von Blättern und Stängeln die Wolle? Der Labortest aus Bremen soll helfen, den Streit zu schlichten. Dafür ist die Bremer Baumwollbörse weltweit als Schiedsstelle anerkannt – rund 20.000 Proben werden jedes Jahr in dem Labor untersucht.
Gründung am 1. Oktober 1872
Schon bei der Gründung der Baumwollbörse am 1. Oktober 1872 war die Streitschlichtung eine der Hauptaufgaben des Vereins. Vereidigte Klassierer untersuchten die Baumwolle von Hand, verglichen sie mit Standardproben und erließen dann einen Schiedsspruch. Die sogenannte Arbitrage gibt es noch heute: Gleich neben dem Labor liegt das Probenzimmer, in dem die Baumwolle nach wie vor von Hand untersucht wird, unter genau definierten Lichtverhältnissen und auf normierten Tischen. Echte Traditionalisten sind davon überzeugt, dass sich die Qualität der Baumwolle am besten bestimmen lässt, wenn man sie in die Hand nimmt – besser als im Labor. Im Nebenzimmer lagern immer noch die Standardproben im Regal: Baumwolle der Qualitätsstufen "good ordinary white color" und "middling white colour" , "fully good" und "good", "super fine" und "extra super fine" liegt in Dutzenden Kartons bereit. Die Sammlung ist die größte ihrer Art weltweit, versichern die Baumwollbörsianer.
Mittlerweile haben sie sich den Qualitätsstandards der International Cotton Association (ICA) in Liverpool angeschlossen und betreiben das Labor gemeinsam mit dem englischen Verband. Bremen ist nicht mehr das Zentrum des Baumwollhandels – an der Börse ertönte bereits 1971 der letzte Gong. Heute hat der Trägerverein noch 16 Mitarbeiter, einschließlich der Hausverwaltung. Die Mieteinnahmen finanzieren die Arbeit des Vereins. "Das sichert unsere Unabhängigkeit", sagt Direktorin Hortmeyer. Alle zwei Wochen erscheint der "Bremen Cotton Report" mit Informationen aus der Branche; alle zwei Jahre findet in der Hansestadt die Internationale Baumwolltagung statt. Neben der Streitschlichtung sieht der Verein seine Aufgabe in der politischen Interessenvertretung. Denn so weiß wie ihr Produkt strahlte die Baumwollbranche nicht immer: Früher waren es Sklaverei und Kolonialismus, die das Image belasteten. Heute wehrt sich die Baumwollindustrie gegen die Kritik von Umweltschützern am Einsatz von Pestiziden und hohem Wasserverbrauch. Auch wenn die Baumwolle aus den Hafenschuppen weitgehend verschwunden ist: Am Einsatz für die flauschige Naturfaser wollen es die Bremer nicht mangeln lassen.