Ab jetzt soll keine Arbeitsstunde mehr unter den Tisch fallen. So hat es das Bundesarbeitsgericht in Erfurt bereits im September entschieden; es folgte damit einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2019. Jetzt haben die deutschen Richter die schriftliche Urteilsbegründung veröffentlicht. Damit ist laut Bremens Arbeitnehmerkammer klar: Betriebe müssen ab sofort ohne Schonfrist dieses Urteil umsetzen und die Arbeitsstunden ihrer Beschäftigten erfassen. "Der Gesetzgeber gibt die Form der Arbeitszeiterfassung ja nicht vor – Excel-Tabelle, Word-Dokument oder ein Stundenzettel auf Papier reichen völlig aus", sagte die Sprecherin der Arbeitnehmerkammer, Nathalie Sander. Was Beschäftigte und Arbeitgeber nun beachten sollten:
Ab wann sollte ein Beschäftigter die Arbeitnehmerkammer informieren, wenn im Betrieb nichts passiert?
"Wenn der Arbeitgeber die Arbeitszeiten nicht erfasst oder erfassen will, sollten Beschäftigte sofort zu uns kommen", rät die Sprecherin. Die Kammer empfiehlt, sich immer selbst die Stunden aufzuschreiben.
Reicht die Arbeitnehmerkammer Beschwerden von Beschäftigten weiter ans Gewerbeaufsichtsamt?
Das tut die Kammer grundsätzlich nicht. Sie weist die betroffenen Beschäftigten aber darauf hin, dass diese dies tun können - gegebenenfalls auch anonym.
Wie oft kommt es noch vor, dass Beschäftigte davon berichten, wie unzureichend die Arbeitszeit erfasst wird?
"Es kommt regelmäßig vor, dass Beschäftigte zu uns kommen, weil ihnen der Arbeitgeber die Überstunden nicht bezahlen will", sagt Sander. Und das ist insbesondere dann ein Streitfall, wenn die Arbeitszeiten nicht erfasst werden.
Wie stellt man das als Arbeitnehmer am besten an, damit die Aufzeichnungen im Zweifel herangezogen werden können?
Es sei immer sinnvoll, sich die Arbeitsstunden aufzuschreiben, damit man die Übersicht über die geleisteten Arbeitsstunden behalte und Überstunden geltend machen könne, so die Arbeitnehmerkammer. Damit die Aufzeichnungen glaubhaft sind, sollte man sie sich möglichst von einem Vorgesetzten mit seiner Unterschrift bestätigen lassen.
Wie bewerten die Arbeitgeber in Bremen das Urteil?
„Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts löst unnötige Rechtsunsicherheit aus und greift in die laufenden politischen Diskussionen rund um das Arbeitszeitgesetz ein", sagte der Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände im Lande Bremen, Cornelius Neumann-Redlin. "Eine gerichtliche Entscheidung wirkt nur zwischen den Prozessbeteiligten und entfaltet im Regelfall keine Allgemeingültigkeit. Es ist alleine Sache des Gesetzgebers, geltendes Recht zu ändern oder zu erweitern. Dementsprechend erreichen uns bislang auch kaum Anfragen aus den Unternehmen."
Wichtig sei nun, dass eine Lösung gefunden werde, die die betriebliche Praxis unterstütze, "indem sie flexibel und handhabbar für Unternehmen und Beschäftigte ist."
Wie viele Betriebe erfassen die Arbeitsstunden elektronisch und wie viele handschriftlich?
"Es ist davon auszugehen, dass rund 60 Prozent der Beschäftigten bereits heute ihre Arbeitszeit elektronisch erfassen und rund 20 Prozent handschriftlich festhalten", sagte Lukas Fuhrmann. Er ist der Sprecher von Bremens Verbraucherschutzsenatorin Claudia Bernhard (Linke). Laut Fuhrmann will die Gewerbeaufsicht dieses Thema bei ihrer aktiven Überwachung stärker platzieren.
Wie viele Fälle konnte die Gewerbeaufsicht in diesem Jahr bisher feststellen, in denen die Dokumentation der Arbeitszeiten nicht ausreichend war?
Die Gewerbeaufsicht kontrolliert laut Fuhrmann regelmäßig die Arbeitszeiten: "Dabei stellt sie immer wieder Verstöße gegen die Dokumentationspflicht fest. Eine statistische Erfassung zu diesem spezifischen Punkt erfolgt allerdings nicht."
Was sind jetzt die nächsten Schritte der Bundesländer?
Am Montag wollen sich diejenigen, die mit diesem Thema in den Bundesländern betraut sind, zu einer Videokonferenz zusammenschalten, um die schriftliche Urteilsbegründung des Bundesarbeitsgerichts fachlich zu bewerten.
Und wie erfasst die Arbeitnehmerkammer die Arbeitszeit bei ihren eigenen Beschäftigten?
"Die Arbeitnehmerkammer selbst hat ein elektronisches Zeiterfassungssystem", erläuterte Sprecherin Nathalie Sander.
Was wird auf Bundesebene passieren?
Das Bundesarbeitsministerium hatte bereits angekündigt, dass es im kommenden Jahr eine gesetzliche Regelung auf den Weg bringen will. Verschiedene Arbeitgeberverbände warnen vor unflexiblen Strukturen. Deutschland brauche Freiräume für eine selbstbestimmte und flexible Einteilung der Arbeit, sagte nicht nur der Präsident des Digitalverbands Bitkom, Achim Berg.