Wenn Dirk Riedel morgens zur Arbeit fährt, läuft ihm manchmal ein Jaguar über den Weg. "Da kriegst du dann erst mal einen Schreck", sagt der Bremer, der Wildwechsel mit Großkatzen dieser Art aus seiner Heimat nicht gewohnt ist. Seine Kinder fragen ihn, ob er auch schon Krokodile gesehen hat. Doch für Ausflüge in den südamerikanischen Dschungel bleibt dem Luft- und Raumfahrtingenieur wenig Zeit. Sein Job ist es, im Raumfahrtzentrum Guayana eine Ariane-6-Rakete startklar auf die Rampe zu stellen. Dabei ist er mit seinem Team jetzt einen großen Schritt weitergekommen.
20 Jahre lang hat Riedel in Bremen für Ariane gearbeitet. Dann bot man ihm den Job als Kampagnenleiter für den Aufbau des Ariane-Testmodells in Kourou an, wo die Rakete im kommenden Jahr zum ersten Mal abheben soll. Weil vor dem Start jeder Handgriff sitzen muss, testen sie jetzt alles einmal durch: Montage, Transport, Betanken, Zünden. Nur abheben soll ihr Testmodell nicht. Die Kampagne, die Riedel leitet, trägt das Kürzel FM 0 – die Null wird in der Liste der Ariane-Starts später nirgendwo auftauchen.
Und dennoch sind die Tests, die Riedel und sein 90-köpfiges Team jetzt anstellen, die Voraussetzung für alle künftigen Flüge der europäischen Hoffnungsträgerrakete: "Wir wollen hier einen industriellen Prozess etablieren", erklärt der Kampagnenleiter. Sprich: Es soll einmal Schlag auf Schlag gehen mit den Ariane-Starts, im Schnitt jeden Monat einer. Da bleibt keine Zeit mehr für langes Hantieren.
Zum Beispiel bei der Montage der beiden Raketenstufen: Sie werden getrennt gefertigt – die Hauptstufe in Les Mureaux bei Paris, die Oberstufe in Bremen. Erst am Startplatz in Kourou werden die Stufen zusammengeschraubt: Mit 304 Bolzen und zwei großen Steckern, die auf Bruchteile von Millimetern genau passen müssen. Das haben Riedel und seine Leute in den vergangenen Wochen wieder und wieder geprobt. In der Serienfertigung soll die Montage später zwei Stunden dauern; beim Probelauf haben sie acht gebraucht. "Wir waren trotzdem überrascht, wie relativ reibungslos das funktioniert", sagt der Kampagnenleiter voller Zuversicht.
Die Ariane steht auf der Rampe
In der klimatisierten Montagehalle haben sie in den vergangenen Wochen auch getestet, wie lange es dauert, Ventile, Leitungen, Kabel, Batterien, Messfühler, Druckgeber und andere Einzelteile der Rakete aus- und wieder einzubauen, falls später mal etwas kaputtgeht und kurz vor dem Start ausgetauscht werden muss. In den vergangenen Tagen stand dann der nächste große Schritt an: das Aufrichten der Rakete auf der Startrampe. Schon der Transport dorthin ist ein Geduldspiel: Weil die Millionen-PS-Rakete am Boden empfindlich ist wie ein rohes Ei, geht es im Schritttempo von der Montagehalle zur ZL, der "zone de lancement", wie die in Kourou tonangebenden Franzosen die Startrampe nennen. Dort wartet ein turmartiger Mobilkran auf den Schwertransport. Riedel nennt ihn die "Kathedrale", ein 90 Meter hohes Ungetüm auf Schienen, vielseitig verwendbar, aber mit einem großen Nachteil: Der Kran ist nicht klimatisiert. Unter der Blechhaube lastet die Tropenluft wie ein feuchter Lappen auf den Männern und Frauen: knapp 30 Grad, 80 bis 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Nach einem Regenguss dampft die Erde. "In Arbeitsklamotten, mit Helm und Sicherheitsschuhen kommt man da ordentlich ins Schwitzen", berichtet Riedel.
In der "Kathedrale" haben sie vor allem eine Aufgabe: Die Rakete behutsam aufzurichten, mithilfe eines Schwerlastkrans unter der Decke. Zum ersten Mal steht jetzt eine Ariane 6 auf ihrem Startplatz, die Spitze himmelwärts gerichtet – dorthin, wo die Nachfolger von FM 0 nächstes Jahr fliegen sollen. "Ein wichtiger und symbolträchtiger Moment", meint André-Hubert Roussel, oberster Chef der Ariane Group. "Mit der Ankunft der ersten kompletten Trägerrakete auf ihrer Startrampe treten wir in die entscheidende Phase der kombinierten Tests."
Und die beinhaltet für Riedel und sein Team noch eine Menge Arbeit: Die Montageverfahren auf der Startrampe, das Aufsetzen der Nutzlast, die Kommunikation der Rakete mit der Bodenstation, Software, Elektronik – alles soll wieder und wieder durchgespielt werden. Auch die Betankung mit flüssigem Sauerstoff und Wasserstoff steht auf Riedels Checkliste, einschließlich möglicher Pannen durch klemmende Ventile und verstopfte Leitungen.
Am Ende kommt der Feuertest: Zehn Minuten lang soll das Haupttriebwerk der Ariane 6 gezündet werden, "wie später im Flug", kündigt Cheftester Riedel an. Trotz Feuerstrahl, großem Getöse und jeder Menge Dampf wird die Rakete aber nicht abheben: "Das Gewicht des Launchers ist dafür hoch genug", stellt Riedel nüchtern fest. Denn drei der vier seitlichen Feststoff-Booster, die der Ariane 6 später den nötigen Extra-Schub zum Verlassen der Startrampe geben sollen, sind bei den Tests nur Attrappen, die mit Wasser befüllt werden. Der vierte wird zwar mit all der nötigen Elektrik und Software ausgestattet, enthält aber statt zündfähigem Festbrennstoff nur Zucker. "Wir haben schon überlegt, ob wir nach dem Feuertest dann Karamell haben", sagt Riedel. "Aber dafür reicht die Hitze nicht, die beim Booster ankommt."
Der Bremer hofft, nach dem Testlauf mit FM 0 im kommenden Jahr auch die Mission FM 1 in Kourou leiten zu dürfen – den ersten Start einer Ariane 6. Deshalb steht parallel zu den Erprobungen an der Rakete noch ein weiterer wichtiger Test an. Ende Juli kommen seine Frau und die beiden Kinder für vier Wochen nach Kourou, um sich das Leben auf der Raketenbasis anzusehen: die klimatisierten Bungalows, die Schule, vielleicht auch endlich ein paar Krokodile. "Die Kinder werden begeistert sein", ahnt Riedel schon jetzt. Und dann wollen sie entscheiden, wie es weitergeht: zusammen in den Tropen oder lieber doch Bremen–Kourou – Familienleben auf der Langstrecke.