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Besuch im Jobcenter Bremen "Ich kann mir keinen schöneren Job vorstellen"

In Bremen sind viele Menschen ohne Arbeit. Das Jobcenter ist ihre Anlaufstelle. Was erleben die Mitarbeiter in ihrem Alltag? Wie schauen sie auf ihre Arbeit? Ein Besuch der Geschäftsstelle Mitte.
09.07.2023, 07:37 Uhr
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Von Lisa Schröder

Im Jobcenter geht es für die Menschen um viel. Chiraz Sheh Moos weiß das. In der Geschäftsstelle Mitte am Doventorsteinweg kümmert sie sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen um die Ansprüche der Kunden – wie die Leistungsempfänger hier genannt werden. In ihrer Abteilung dreht sich also alles ums Geld.

An diesem Morgen sitzt bei Chiraz Sheh Moos in Raum 0.040 ein junger Mann. Sein Vermieter droht, ihn aus der Wohnung zu werfen. Es gibt Rückstände bei der Miete. Weil der Mann eine Arbeit aufgenommen hatte, zahlte das Jobcenter die Wohnung nicht mehr direkt. Die Stelle verlor er aber nach einem Tag. "Ich will nicht raus!", sagt der Mann, der vor dem Krieg in Afghanistan nach Deutschland geflohen ist. L, I, V, E – die vier Buchstaben sind auf seine Finger tätowiert. 

Sheh Moos kennt die Lage der Menschen hier gut, weil sie schon auf der anderen Seite gesessen hat: "Ich war selbst Kundin." Als junge Frau kam sie in die Stadt, geflohen aus Syrien mit ihren kleinen Geschwistern. Ihre Eltern haben die Kinder verloren. So kümmerte sich die Schwester um alle.

Viele Jobcenter-Kunden stecken in Schwierigkeiten

Wer hier bei Sheh Moos sitzt, der steckt oft in Schwierigkeiten. Die Jobcentermitarbeiterin will Hoffnung machen. Immer wieder erzählt sie von ihrer eigenen Geschichte. "Das mache ich sehr oft", sagt die Bremerin. Vor Kurzem habe sie mit einer alleinerziehenden Mutter gesprochen, die mit allem überfordert gewesen sei. Sie habe nicht mehr daran geglaubt, eine Arbeit zu bekommen. Ihre Botschaft sei aber gewesen: "Doch! Das geht! Ich bin der lebende Beweis."

Jetzt ist zunächst schnelle Hilfe gefragt. Viele Fragen müssen geklärt werden. Sheh Moos schaut sich die Unterlagen an, dreht den Bildschirm in Richtung des Mannes: "Hier ist Ihre Akte. Wir können alles durchgehen." Dabei zeigt sich: Die Wohnung könnte schon am nächsten Tag weg sein.

Die Angst im Gesicht des Mannes aber verschwindet ein paar Momente später. Denn das Jobcenter wird seine Miete noch heute begleichen – teils als Darlehen. Er ist erleichtert: "Dankeschön! Sie haben mir wirklich geholfen!"

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Chiraz Sheh Moos hat rund 120 Kolleginnen und Kollegen in der Geschäftsstelle. An diesem Morgen ist der Eingangsbereich hier gut besucht. Sicherheitsleute sind auf den Fluren präsent. Wer ohne Termin da ist, der zieht eine Nummer. 30 Menschen warten derzeit. "Dong" ertönt es wieder. Der Nächste darf rein.

Yarie Bangoura arbeitet in dieser Eingangszone des Jobcenters. Wenn bei ihr die Tür aufgehe, sei das immer eine Überraschung: Wer kommt? Um welches Problem geht es? In ihrem Büro hängen Dutzende Postkarten mit Sprüchen: "Läuft bei mir", "Shiny Happy People", "Kreativmonster". Ihre Karriere ging im Hotel los – eine ganz andere Welt. Heute ist Bangoura im Jobcenter zufriedener. Die Arbeit sei spannend.

Bangoura löst nun auf einem Gerät den Aufruf fürs nächste Gespräch aus. Es piept kurz bei ihr. Dann klopft jemand. 

"Hallo! Moin!"

"Hallo!"

Eine schwangere Frau mit Kind kommt hinein. Ein Bekannter ist als Übersetzer dabei. Das Geld für diesen Monat fehle noch, erklärt der Mann für die Frau. "Ich muss mir das ganz kurz durchlesen", sagt Bangoura und ruft die Unterlagen auf.

Im Arbeitsalltag der Beschäftigten spielt die genaue Dokumentation eine wichtige Rolle: Kontoauszüge, Rechnungen, Mahnungen, Termine. Das alles bringt auch eine gewisse Ordnung in eine Lebensgeschichte nach den Spielregeln des Jobcenters.

In diesem Fall ist der Anspruch der Frau auf Leistungen noch nicht geklärt. Bangoura kann nicht viel machen. Der zuständige Kollege ist nicht erreichbar. Die Ungeduld ist groß. Schon oft habe die Frau, sagt ihr Bekannter, um Antwort gebeten. Das Geld fehle. "Im nächsten Monat kommt das Baby", sagt der Mann. Bangoura versucht, zu erklären, warum sie nicht direkt helfen kann. Am Ende verbleibt sie mit ihnen so: In 48 Stunden gibt es auf jeden Fall einen Rückruf.

"Immer noch zu wenig"

Seit der Bürgergeldreform gibt es mehr Geld für die Leistungsbezieher. Doch das Leben ist teuer geworden. "Für Familien mit Kindern ist das immer noch zu wenig", sagt Chiraz Sheh Moos. Damals sei es auch für ihre Familie ständig knapp gewesen. Von den Beträgen könne man sich kaum etwas gönnen: "Darum verstehe ich auch meine Kunden."

In der Ausbildung hat Sheh Moos gelernt, mit schwierigen Gesprächen umzugehen. Doch manches Schicksal nimmt die junge Frau trotzdem mit. Dann könne sie nicht mehr. "Man denkt, dass irgendwann ein Schutz aufgebaut ist. Stimmt nicht!" Im Jobcenter säßen Menschen und eben keine Maschinen, um Entscheidungen für andere Menschen zu treffen. Das sei sicher ganz bewusst so.

Simon Klemptner sieht in seiner Arbeit ebenfalls viel Sinn. "Wenn nicht das Jobcenter sich um die Menschen kümmert, dann macht es keiner mehr. Wir sind oft die letzte Station", sagt der Arbeitsvermittler. Klemptner betreut viele Menschen mit psychischen Problemen. Das erfordert besonders viel Einfühlungsvermögen.

In seinem nächsten Gespräch wird das deutlich. Simon Klemptner hört dem Mann ruhig zu. Er sitzt an seiner Seite – verschwindet nicht hinter einem Bildschirm. Die Geschichte des Kunden kennt er genau. Der leidet derzeit sehr unter seiner Wohnsituation.

Warum er hier im Jobcenter sei? "Lebenskrise", sagt der Mann mit gebrochener Stimme. Seit seiner Kindheit habe er traumatische Geschichten erlebt. "Ich habe immer versucht, rauszukommen und meinen Weg zu finden. Das ist eine lebenslange Aufgabe, habe ich gemerkt. Mit Hilfe geht es." Er sucht auch beruflich eine neue Perspektive für sich – mit Klemptner zusammen.

Es ist so vielfältig, was man hier jeden Tag erlebt.
Simon Klemptner über seine Arbeit im Jobcenter

Der Arbeitsvermittler hat ein duales Studium bei der Bundesagentur für Arbeit absolviert. Das Werkzeug für seine Aufgabe als Berater habe er an die Hand bekommen. Doch jeder Mensch sei anders. "Darauf kann man sich nur bedingt vorbereiten", sagt Klemptner. "Es ist so vielfältig, was man hier jeden Tag erlebt." Generell seien die Gründe sehr unterschiedlich, warum jemand länger arbeitslos sei. Krankheit und Drogensucht gehören dazu. Vermehrt habe er auch jüngere Kundinnen und Kunden, Mitte bis Ende 20, die schon abgerutscht seien.

Wenn es mit einem Kunden brenzlig wird, gibt es mehrere Notrufknöpfe. Sheh Moos musste sich schon Hilfe holen. In einem Fall hätten die Sicherheitsleute eingreifen müssen. Solche Geschichten gebe es aber sehr selten – und eben nicht nur im Jobcenter. Viele hätten leider ein falsches Bild von ihrem Arbeitsplatz. Das sei sehr schade. "Ich kann mir keinen schöneren Job vorstellen", sagt Chiraz Sheh Moos. "Ich bin hier genau richtig."

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