Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Chef des Bremer Jobcenters "Wir wollen auch nahbarer für die Menschen sein"

Menschen leben gerne von Transferleistungen? Dieser Gedanke ist dem Chef des Bremer Jobcenters zufolge ein Irrglaube. Was der Geschäftsführer zum Bürgergeld sagt – und was er im eigenen Haus verbessern will.
15.12.2022, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Florian Schwiegershausen

Herr Spinn, vor einem Jahr haben Sie gehofft, dass aus Hartz IV das Bürgergeld wird. Das kommt nun, aber viel hat sich da ja nicht geändert.

Thorsten Spinn: Das sehe ich anders. Zugegeben war der ursprüngliche Entwurf der Regierung weitreichender als das, was am Ende beschlossen wurde. Aber was nun zum 1. Januar und zeitversetzt zum 1. Juli in Kraft tritt, da steckt vieles drin, was die Jobcenter zuvor gefordert haben.

Und wo sehen Sie Verbesserungen?

Die Menschen bekommen zehn Prozent mehr Geld mit der Erhöhung des Regelsatzes, was ja in etwa dem Inflationsausgleich dient. Es gibt da mehr Ansätze, wo am Ende auch mehr Geld übrigbleibt. So sind die Freibeträge größer, was man nun dazuverdienen darf. Für Auszubildende und Studierende ist es etwas besser geworden, da bleibt am Ende netto mehr Geld übrig. Außerdem ist nun ein größeres Anreizsystem geschaffen worden.

Das bedeutet?

Im Bürgergeld finden sich nun viele Aspekte, die auf Qualifizierung, Fördern und dorthin begleiten abzielen – auch im Sinne von „es lohnt sich“. Denn es wird ja zum Beispiel den Qualifizierungsbonus geben, den wir hier in Bremen und Bremerhaven übrigens entwickelt und pilotiert haben. Wer einen Berufsabschluss nachholt, bekommt nun jeden Monat zusätzlich 150 Euro Qualifizierungsbonus als Motivations- und Aufwandsprämie. Denn was man nicht vergessen darf: 70 Prozent der Menschen, die sowohl in Bremen als auch bundesweit über die Jobcenter Geld beziehen, verfügen über keinen Berufsabschluss oder keinen, der noch aktuell ist und gelten damit als unqualifiziert.

Lesen Sie auch

Und sonst?

Hätte man bisher nah am Gesetz gearbeitet, hätte das bedeutet, möglichst schnell jemanden wieder in Arbeit zu bringen – egal wie, auch wenn er zwei Wochen später wieder raus ist. Was jetzt zählt: „Wenn ihr glaubt, den über eine gute Qualifizierung dauerhaft in eine Arbeit zu bringen, dann sollt ihr das so machen.“ Das findet sich im Gesetz nun wieder. Für uns wird es außerdem in der Verwaltungspraxis einige Vereinfachungen geben.

Was bedeutet das denn für Sie und Ihr Team bei der Umsetzung?

Das Mehr an Geld wird an die Menschen ausgezahlt, was am wichtigsten überhaupt ist. Es wird aber ein zeitlich gestaffelter Prozess sein. Auch in den Schreiben im Januar und Februar wird formal noch der Begriff „Arbeitslosengeld II“ zu lesen sein. Erst zum 30. Juni soll der Begriff verschwunden sein. So lange braucht man auch, um die Schreiben zu ändern.

Behördenschreiben sind ja grundsätzlich so eine Sache.

Da fragen wir uns grundsätzlich: Wie sind unsere Schreiben überhaupt? Wir nutzen ja überwiegend zentrale Schreiben der Bundesagentur sowie deren IT. Das ist keine einfache Kost. Mit der Einführung des Bürgergeldes wollen wir auch nahbarer für die Menschen sein und Hürden abbauen. Das geht natürlich nur, wenn uns die Menschen verstehen. Da sollten wir auch einfache Sprache sprechen – und so müssen wir auch schreiben. Das muss angepasst werden, und so was geht nicht von heute auf morgen. Am Ende wird es nicht nur Monate, sondern vielleicht sogar Jahre brauchen, bis das umgesetzt ist.

Lesen Sie auch

Angesichts des Arbeitskräftemangels in der Wirtschaft hätte es so mancher Arbeitgeberverband gern, dass so viele Langzeitarbeitslose wie möglich wieder in Arbeit kommen. Wie hoch sehen Sie denn hier in Bremen den Prozentsatz derer, die aufgrund von bestimmten Erkrankungen für den ersten Arbeitsmarkt kaum vermittelbar sind?

Auf eine Prozentzahl möchte ich mich da nicht festlegen. Sicher ist: Die allermeisten, die von uns Leistungen beziehen, die würden gerne nicht darauf angewiesen sein und lieber arbeiten gehen und von ihrem Einkommen leben. Die Diskussion, dass die Menschen gern von Transferleistungen leben, ist meiner Meinung nach ein Irrglaube. Es mag da Einzelne geben. Dieser Anteil ist aber im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Da gibt es dann Anforderungen von Arbeitgebern an potenzielle Beschäftigte auf der einen Seite und auf der anderen Seite, das, was die Menschen aufgrund ihrer Qualifikation anbieten und leisten können. Da werden wir aber einige haben, die die Anforderungen für den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr erfüllen können.

Wie meinen Sie das?

Wir sehen mit dem Teilhabechancengesetz, das nun entfristet wurde, dass Menschen, die man eigentlich schon abgeschrieben hatte, für den Arbeitsmarkt funktionieren – mehr, als wir geglaubt hatten. Es braucht aber Zeit und sicherlich brauchen auch Arbeitgeber Unterstützung von unserer Seite. Da wird es ein Coaching und eine Begleitung geben. Denn Arbeitgeber sind ja auch damit überfordert, wie sie jemanden wieder eingliedern, der lange nicht mehr gearbeitet hat. Was ist zum Beispiel, wenn der morgens nicht pünktlich ist?

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus dann?

Das heißt nicht, dass da jemand nicht will – die Menschen haben häufig auch Angst und sind überfordert. Da sehe ich eine wichtige Aufgabe von unserer Seite her, dass wir eine wichtige Scharnierfunktion ausüben. Da können wir noch sehr viel bewegen.

Lesen Sie auch

Haben Sie eine Erklärung dafür, wie es über Jahre in Bremen zu diesem Matching-Problem gekommen ist, das wir hier in Bremen haben? Es passen also die Menschen ohne Arbeit nicht zu den offenen Stellen?

Wenn wir in die Jahre 2004/2005 zurückschauen, kommen wir aus einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit. Die Arbeitgeber konnten sich also für ihre offenen Stellen unter den potenziellen Beschäftigten die Rosinen rauspicken. In Bremen kam noch der Strukturwandel zum Beispiel durch die Werften hinzu. Viele Menschen wurden gar nicht nachgefragt – auch nicht die mit guter Qualifikation. Über die Jahre hat sich das gewandelt. Aber viele Menschen haben trotzdem keinen Landeplatz gefunden, obwohl sie wollten und motiviert waren. Es lag da nicht an den Menschen, und das soll kein Arbeitgeber-Bashing sein. Über die Jahre wurde die Lücke derer, die Arbeit anbieten, immer kleiner. Wir haben ja nicht mal mehr die Hälfte an Arbeitslosen wie noch 2005. Angesichts des Fachkräfte- und Arbeitskräftemangels jetzt hat man plötzlich wieder diejenigen im Blick, die man jahrelang nicht im Fokus hatte. Und da ist jetzt die Frage, wie man diese Menschen sinnvoll an den Arbeitsmarkt heranführt und eingliedert.

Wie würden Sie dieses Jahr beschreiben?

Wir haben ein bewegtes Jahr hinter uns. In den ersten drei Monaten wurde ja wegen der Pandemie noch vermehrt aus dem Homeoffice heraus gearbeitet. So konnten wir die Kundinnen und Kunden überwiegend telefonisch erreichen. Da haben wir auch intern gemerkt, dass wir wieder in den persönlichen Kundenkontakt kommen müssen. Das hat uns viel Kraft gekostet, um alle Seiten mitzunehmen. Denn wenn man die, die wir beraten, überzeugen kann, dann können wir sie auch mitnehmen. Wir müssen da eine Arbeitsbeziehung aufbauen. Dann wurden wir überrollt von den Entwicklungen in der Ukraine, weil die Verantwortung für die Geflüchteten an uns gegeben wurde.

Lesen Sie auch

Was bedeutet das in Zahlen für Sie?

Aktuell erhalten knapp 6000 Menschen aus der Ukraine Geldleistungen von uns. Dazu kommen diejenigen, die bereits wieder zurückgegangen sind und eine Leistung von uns erhalten haben. Und dann sind da auch diejenigen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, dort gearbeitet haben und anderer Nationalität sind. Das haben wir alles nebenbei gemacht ohne viel Unruhe, bedeutete für uns aber einen enormen Kraftakt. Denn für viele waren wir erste Anlaufstelle. Da ging es dann um generelle Fragen für den Lebensalltag in Deutschland, die über das hinausgehen, was wir ansonsten kennen. Das haben wir sehr gut geschafft.

Und wenn überall Fachkräftemangel ist: Wie einfach oder schwer ist es, Beschäftigte für das Jobcenter zu finden?

Wir versuchen es mit attraktiven Arbeitsbedingungen, die der öffentliche Dienst mit sich bringt, sowie Flexibilität bei den Arbeitsmodellen. Für mich ist es kein Problem, wenn ein Vater Elternzeit nimmt. Wir forcieren das sogar und überlegen, ein Väternetzwerk zu gründen. Dann sind wir in der glücklichen Lage, dass die Arbeitsagentur und die Stadt Bremen als unsere Mutterhäuser für uns auch ausbilden. Aber trotzdem sind wir in einem ständigen Konkurrenzkampf. Für uns geht es darum, in unserer Werbung stärker zu zeigen, was wir eigentlich machen. Dafür haben wir auf YouTube inzwischen auch Filme, die das zeigen. Wir wollen da nahbarer werden und zeigen, was für eine wichtige Arbeit wir hier tun. Von uns beziehen 80.000 Bremer in irgendeiner Art und Weise Leistungen – also jeder siebte Bremer. Wir leisten also eine sinnstiftende und wichtige Arbeit.

Inwiefern wären da vielleicht mehr unbefristete und weniger befristete Stellen hilfreich, dass sich jemand für eine Arbeit beim Jobcenter entscheidet?

Das gab es früher mal mit den Befristungen, aber der Befristungsanteil liegt inzwischen unter einem Prozent. Bei uns hat man eine echte Perspektive.

Das Gespräch führte Florian Schwiegershausen.

Zur Person

Thorsten Spinn

ist seit 2020 Geschäftsführer des Jobcenters Bremen. Zuvor war der gebürtige Wilhelmshavener unter anderem beim Jobcenter Hannover und der Regionaldirektion Niedersachsen/Bremen tätig.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)