Die duale Ausbildung steht unter Druck. "Pandemiebedingt erleben wir neue Negativrekorde", sagte Elke Hannack, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), am Mittwoch in Berlin. Im Juli dieses Jahres seien bundesweit noch 127.000 gemeldete Bewerber und Bewerberinnen unversorgt gewesen. Weniger als eine halbe Million duale Ausbildungsverträge wurden nach Angabe des Statistischen Bundesamtes im vergangenen Jahr geschlossen. Das ist der niedrigste Wert seit Beginn der statistischen Erfassung vor 40 Jahren. "Das kann und darf sich dieses Land nicht leisten", sagte Hannack, "die duale Ausbildung ist ein Eckpfeiler für den Erfolg der Wirtschaft hierzulande". Eine massive Erholung des Marktes, die den Verlust kompensieren könnte, sei aus DGB-Sicht nicht realistisch.
Bremen nimmt in der Jahresstatistik der Bundesagentur für Arbeit einen Sonderstatus ein: Es ist das einzige Bundesland, in dem zwischen Oktober 2020 und Juli 2021 sowohl die Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze (plus 6,8 Prozent) als auch die Zahl der Bewerber (plus 8,3 Prozent) gestiegen ist. Allerdings waren die Rückgänge im vergangenen Jahr besonders groß gewesen, was den Zuwachs relativiert. Und auch der Bremer Arbeitnehmerkammer-Chef Ingo Schierenbeck warnt trotz der scheinbar positiven Werte: "Das Angebot an Ausbildungsstellen im Land Bremen reicht nicht aus, um allen interessierten Jugendlichen eine Ausbildung zu ermöglichen." Zum einen würden in den Statistiken diejenigen fehlen, die sich gar nicht erst bei der Berufsberatung gemeldet haben. Zum anderen berücksichtigten die Zahlen nicht die Bewerber aus dem Umland, die mit den Bremer Bewerbern konkurrierten. Aussagekräftiger ist auch für Bremen die Zahl der geschlossenen Ausbildungsverträge. Die lag im vergangenen Jahr der Arbeitnehmerkammer zufolge bei 5178 – ein historischer Tiefstand.
Bundesweit haben vor allem die Branchen starke Rückgänge zu verzeichnen, die von der Corona-Krise besonders betroffen sind. Hotels und Restaurants beispielsweise waren über mehrere Monate hinweg geschlossen, wodurch sich der Personalbedarf reduziert hat. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: 2020 unterschrieben 61 Prozent weniger Personen einen Ausbildungsvertrag zur Tourismusfachkraft als noch im Jahr davor. Bei Hotelfachkräften gingen die Zahlen um etwa ein Drittel zurück, bei Köchen und Köchinnen um ein Fünftel. Zuwächse gab es in Teilbereichen des Handwerks – beispielsweise bei Dachdeckern und Zweiradmechatronikern.
Für den allgemeinen Zustand des Ausbildungsmarktes reicht Corona als Erklärung allerdings nicht aus. Die Zahl der geschlossenen Verträge sinkt seit mehr als zehn Jahren kontinuierlich. Verzeichnete beispielsweise das Gastgewerbe im Jahr 2007 bundesweit noch etwa 46.000 Ausbildungsabschlüsse, waren es 2019 knapp 22.000. Den Grund dafür sieht der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) vor allem im demografischen Wandel. Tatsächlich geht die Zahl der Schulabgänger seit Jahren zurück – jedoch nicht dem Azubi-Schwund entsprechend.
Vielmehr seien unpopuläre Arbeitsbedingungen das Problem, sagt Frank Meng. Er forscht am Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen, beschäftigt sich dort mit Ausbildungsfragen. Dass die Bedingungen sich zuletzt für viele Auszubildende verschlechtert haben, legt eine repräsentative Studie nahe, die der DGB am Mittwoch vorgestellt hat. Unter 1000 befragten Auszubildenden berichten demnach drei Viertel von höheren Belastungen durch die Corona-Krise, ein Drittel hat akute Zukunftsängste. Außerdem müssten viele Auszubildende verstärkt fachfremde Aufgaben übernehmen.
Es sind Ergebnisse, die kaum neue Bewerber anlocken dürften. Aber was machen diejenigen, die früher beispielsweise eine Ausbildung im Gastgewerbe absolviert hätten? Meng sieht einerseits eine Verlagerung in Richtung anderer Berufe. Profitiert hätten in den vergangenen Jahren Ausbildungen für Büroberufe. Zudem verweist er auf das gestiegene Interesse an einem Studium – vor allem bei Frauen. Grundsätzlich, sagt der Experte, sei die Krise auf dem Ausbildungsmarkt auch eine Geschlechterfrage. Klammert man das Corona-Jahr 2020 aus, ging die Zahl der geschlossenen Ausbildungsverträge bei Frauen seit 2011 um 18 Prozent zurück, bei den Männern um drei Prozent.
Meng appelliert an die Arbeitgeber: "Der Handwerksbetrieb könnte sich zum Beispiel fragen: Wie können wir für junge Frauen attraktiver werden?" Zukünftig werde es vor allem um das Image der Ausbildung gehen. "Azubis ist es wichtig, wie sie wahrgenommen werden und ob man sie auf Augenhöhe anspricht. Wir sind im 21. Jahrhundert, der Azubi als Brötchenholer hat ausgedient." Wer schlecht behandelt werde, breche seine Ausbildung nicht nur überproportional oft ab, sondern berichte auch von seinen Erfahrungen – mit abschreckender Wirkung für andere.