Der Wetterbericht für Tschechien findet in Bremen meist nur mäßiges Interesse. Andreas Heyl allerdings betrachtet die Tiefs dieses Sommers jenseits des fernen Erzgebirges mit einiger Sorge: "Da hat’s ziemlich viel geregnet", stellt der Betriebsleiter der Bremer Rolandmühle fest. "Mal sehen, was da kommt." Was kommt, ist auf jeden Fall die nächste Getreideernte, per Bahn aus Tschechien direkt zu ihm in den Holz- und Fabrikenhafen. Und die soll er verarbeiten – zu einem Mehl, aus dem sich problemlos Brot, Brötchen, Kekse, Kuchen und Torten backen lassen, egal wie nass das Korn am Stängel hängt.
Heyl eilt ins Labor. Der 47-Jährige stammt aus einer alten Müllerfamilie, ist selbst gelernter "Müller von der Pike", wie er betont. Heute nennt sich der Beruf allerdings Verfahrenstechnologe Mühlen- und Getreidewirtschaft. Denn mit einer alten Wind- oder Wassermühle – "Rickeracke! Rickeracke! Geht die Mühle mit Geknacke" – hat eine moderne Industriemühle nicht mehr viel gemeinsam. Getreidesäcke, die mitsamt zweier Strolche namens Max und Moritz angeliefert werden, hätten jedenfalls die strengen Eingangskontrollen in der Rolandmühle nicht passiert – zu viele Fremdkörper. "Das Getreide wird erst eingelagert, wenn das Labor die Qualität bestimmt hat", erklärt Heyl. Man will sich schließlich nicht 40.000 Tonnen Getreide, die in den Silos lagern, durch eine faule Charge ruinieren.
Überhaupt ist der Mühlenbetrieb zu einer Wissenschaft für sich geworden. Der moderne Müller weiß alles über Feuchtigkeitsgehalt und Stärkebildung im Getreide, über Fallzahl-Bestimmungen und Alpha-Amylase-Aktivität. Und wenn das Getreide so feucht ist wie in diesem Jahr, merken sie das im Labor sofort. "Natürlich hat es früher auch schon verregnete Ernten gegeben und es gab trotzdem Brötchen", beruhigt Heyl. "Aber bei viel Feuchtigkeit verschiebt sich eben alles und darauf muss man in der Verarbeitung reagieren." Um mit ihren Kunden jederzeit mitreden zu können, backen sie oben in der Versuchsbäckerei aus dem eigenen Mehl sogar regelmäßig Brot und Brötchen, zur Qualitätskontrolle.
Heyl fährt im Fahrstuhl im Siloturm ganz nach oben. Für eine Mühle reichen heute vier Flügel, zwei Mühlsteine und eine knarrende Holzstiege nicht mehr aus. Eine Industriemühle ist ein dreidimensionales Labyrinth voller Elevatoren, Rohre und Förderbänder. "Eine Mühle braucht mindestens fünf Etagen", erklärt der Müllermeister. Denn produziert wird vorzugsweise von oben nach unten statt von links nach rechts.
High-Tech gegen Mutterkorn
Das A und O ist dabei die Sauberkeit. "Getreide ist ein Naturprodukt", sagt Heyl. Es kommt mitsamt Stroh, Gestein und sonstigem Dreck vom Acker in seine Mühle, muss also erst mal gereinigt werden; erst grob, dann fein, mit viel Gerüttel und Geschüttel. Die Schublade, die Heyl aus dem Steinausleser zieht, ist voller Steinchen, die im Mehl natürlich nichts zu suchen haben. Neuester Stand der Reinigungstechnik ist der Farbsortierer ein paar Treppen tiefer: Hightech-Kameras erkennen im vorbeifliegenden Körnerstrom jedes dunkle Mutterkorn, das durch Pilzbefall entsteht und zielsicher per Druckluft herausgeschossen wird. 1,2 Millionen Euro investiert die Rolandmühle gerade in diese letzte Reinigungsstufe; ein Gerät läuft schon, drei sind bestellt. "Leider ein halbes Jahr zu spät", grummelt Heyl, der die Farbsortierer unbedingt schon für die neue Ernte einsetzen will.
Sie haben überhaupt einiges investiert in die Anlagen zur Lagerung und Reinigung des Getreides, jedes Jahr ein paar Millionen Euro. "Heute soll ja alles aussehen wie im Krankenhaus: Edelstahl, weiß gestrichen und bloß keine Holzböden", lästert Heyl. Finstere Hallen, in die das Sonnenlicht vor lauter Mehlstaub kaum hineindringt, sucht man jedenfalls vergeblich in der Rolandmühle.
Doch ausgerechnet das Herzstück der Anlage wirkt fast wie ein Industriemuseum. Gesiebt, gescheuert, sortiert und benetzt wandert das Getreide auf quietschenden Förderbändern über eine Brücke, die das halbe Werksgelände in schwindelerregender Höhe überspannt, in die Mühle: 100 Walzenstühle aus Gusseisen, rot lackiert, auf Holzdielen montiert. Retro-Look, würde man sagen – wenn die meisten nicht tatsächlich aus der Nachkriegszeit stammen würden, Baujahr 1951 oder noch älter, gefertigt beim Braunschweiger Mühlenbauer MIAG. Ihr höllisches Rattern übertönt jede klappernde Mühle am rauschenden Bach, wie sie in Volksliedern aus der Romantik besungen wird, um etliche, sehr unromantische Dezibel. Es ist stickig und heiß, auch wenn draußen die Sonne gar nicht scheint.
"Wir haben die Maschinen immer wieder umgebaut und modernisiert", schreit Heyl gegen das Getöse an. "Die laufen einwandfrei" – und das 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Das Prinzip ist einfach: Zwei gegenläufige Walzen im Inneren der Maschinen zermahlen das Korn. Und das in mehreren Durchgängen, die die Müller "Passagen" nennen. Beim ersten Mahlen zwischen grob geriffelten Walzen fallen 30 Prozent des Korns als Mehl an. Der Rest bleibt zwischen den Spelzen hängen, wird hochgesaugt, auf Siebmaschinen durchgerüttelt und sortiert, um gleich darauf in den nächsten Walzenstuhl zu rieseln, der mit feineren Riffeln mehr aus jedem Korn herauszuholen versucht. So wird das Getreidekorn erst zu Schrot, dann zu Grieß und zu Dunst – bis es restlos zu Mehl zermahlen ist, kann es ein Dutzend Mal durch die Walzen gejagt werden.
Dass die Mühle mit ihren 70 Jahre alten Maschinen mittlerweile den Charme eines Industriemuseums hat, bestreitet Heyl nicht. "Wir haben jetzt viel in die Lagerung und Reinigung des Getreides investiert, als Nächstes ist die Mühle dran", sagt er. In den kommenden fünf bis zehn Jahren werde neu gebaut, stellt der Betriebsleiter in Aussicht. Dann wird er wieder ganz in seinem Element sein. "Man sagt ja: Das Wandern ist des Müllers Lust", lacht Heyl. Gewandert ist er schon viel in seinem Berufsleben, bis Bolivien und Bangladesch. Eine neue Mühle in Bremen zu bauen, käme da als nächstes Abenteuer gerade recht.