In den nächsten Jahren wird eine Verschärfung des Fachkräftemangels erwartet, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in die Rente gehen. Auf dem Bremer Arbeitsmarkt droht dann der Arbeitnehmerkammer zufolge eine "große Lücke" aufzuklaffen: Allein in den kommenden zehn Jahren gehen nach ihren Berechnungen 80.000 Bremer und Bremerhavener in den Ruhestand. "Spannt man den zeitlichen Horizont noch fünf Jahre weiter, dann werden mehr als 120.000 Beschäftigte aus den Bremer Betrieben verschwunden sein", berichtet die Referentin für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik Regine Geraedts. Die Allermeisten von ihnen seien beruflich gut ausgebildet.
Welche Chancen ergeben sich?
In der Wirtschaft verändert sich angesichts der Entwicklungen der Blick auf die ältere Generation. Ebru Sakarya ist bei der Bremer Arbeitsagentur mit den Betrieben im Austausch. "Unternehmen entdecken zunehmend das Potenzial von älteren Arbeitnehmern", stellt die Arbeitsvermittlerin fest. Ihre Chancen seien wegen des Fachkräftemangels heute besser. Aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrung schätzten die Unternehmen die Beschäftigten, und sie versuchten, sie länger zu halten – weil auch der Nachwuchs fehlt: "Es kommen immer weniger Jüngere nach."
Der Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Ulrich Walwei bestätigt die Beobachtung. "Wir sehen in den vergangenen Jahren eine Tendenz, dass Betriebe eigentlich rentenberechtigte Personen weiterbeschäftigten wollen", sagt er im Gespräch mit dem WESER-KURIER. Die Älteren bekämen heute mehr und mehr entsprechende Angebote. Die Beschäftigten könnten dabei bessere Arbeitsbedingungen aushandeln. Die Babyboomer sind Walwei zufolge verglichen mit vorherigen Alterskohorten relativ gut ausgebildet. "Ihre Fähigkeiten machen sie für die Betriebe interessant." Um die Mitarbeiter über ihren Renteneintritt hinaus zu gewinnen, müsse eine passende Tätigkeit gefunden werden: "Es kann sich kaum um eine Aufgabe handeln, für die gerade niemand anderes zu finden ist."
Wie viele Menschen arbeiten im Alter?
Die Erwerbstätigenquote der Älteren ist in Deutschland deutlich gestiegen. Im vergangenen Jahr arbeiteten nach Angaben des Statistischen Bundesamts beispielsweise 63 Prozent der 60- bis unter 65-Jährigen. "Der längere Verbleib der Älteren im Arbeitsleben ist eine Positiventwicklung", findet Walwei. Dazu beigetragen habe die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Viele Möglichkeiten der Frühverrentung seien zudem weggefallen. Zugleich gibt es bei den Babyboomern den Wunsch, den Arbeitsmarkt zügiger zu verlassen: Das Magazin "Panorama" berichtete über eine Studie, wonach 68 Prozent spätestens mit 64 Jahren in Rente gehen wollen.
"Heutzutage möchten die Beschäftigten gerne weiter auf dem Arbeitsmarkt bleiben. Vielleicht müssen sie es auch, weil hier und da die Rente nicht ausreicht", sieht es derweil Sakarya in ihrem Alltag. Die Arbeitsagentur unterstütze den Wunsch. "Wir kennen in unseren Vermittlungen und bei den Weiterbildungen keine Altersgrenzen." Aktuell liege eine Anfrage einer Pflegehelferin vor, die mit 60 Jahren die dreijährige Umschulung zur Pflegefachkraft machen soll: "Solche Anfragen haben wir oft."
Forscher Walwei hält es aufgrund der demografischen Entwicklung für notwendig, die Erwerbstätigkeit der Älteren noch weiter auszuschöpfen, was aber "kein Selbstläufer" sei. Um dieses Ziel erreichen zu können, sei es ganz entscheidend, sich um die Gesundheit der Beschäftigten zu kümmern. Denn nur so könne die "lange Strecke" im Beruf überhaupt gegangen werden. Ein Ansatzpunkt seien zudem die Frauen, sagt der Vizedirektor des IAB: "Je mehr Frauen selbstverständlich über lange Zeit am Arbeitsmarkt teilhaben, desto größer ist die Chance, dass diese Frauen auch im Alter aktiv sind."
Was nehmen Arbeitnehmervertreter wahr?
Die Bremer Arbeitnehmerkammer sieht bisher nicht, dass die Unternehmen die Babyboomer mit guten Arbeitsbedingungen umgarnen, um sie länger im Betrieb zu halten. "Es scheint, als wenn die Dringlichkeit des Fachkräftemangels in den Betrieben noch nicht wirklich angekommen ist", sagt Expertin Regine Geraedts und verweist auf Ergebnisse der jüngsten Beschäftigtenbefragung der Arbeitnehmerkammer. Darin sei unter anderem gefragt worden, ob der Arbeitgeber in den vergangenen zwei Jahren Angebote zur Gesundheitsförderung gemacht habe: "Mit knapp 42 Prozent verneinten ausgerechnet in der Altersgruppe der ab 55-Jährigen diese Frage überproportional häufig."
"Gesund und selbstbestimmt aus der Arbeit in Rente gehen zu können, ist für Ältere alles andere als eine Selbstverständlichkeit", sagt auch Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, gegenüber dem WESER-KURIER. Maßnahmen zur Weiterbeschäftigung Älterer seien in vielen Betrieben die Ausnahme. "Es bringt nichts, nur über den Fachkräftemangel zu klagen, das Hohelied der Silver Ager zu singen und immer wieder die Anhebung der Regelaltersgrenzen zu fordern", kritisiert Urban. Die Unternehmen müssten stattdessen die Belastungen für ältere Beschäftigte abbauen und die Arbeitsbedingungen verbessern.
Welche Aussichten gibt es für Arbeitslose im Alter?
Wer nach einer Erwerbsunterbrechung wieder einsteigen wolle, der könne bisher weiterhin oft nur schwer Fuß fassen, konstatiert Walwei: "Da sieht das Bild nicht ganz so positiv aus." Im Vergleich zu den Jüngeren hätten die Älteren womöglich doch immer noch die schlechteren Karten. In Bremen betrug die Arbeitslosenquote der 55- bis 65-Jährigen im vergangenen Jahr 8,9 Prozent. Die Aussichten für diese Gruppe könnten sich mit dem zunehmenden Fachkräftemangel jedoch ebenfalls verbessern.
Die Sorge bei Älteren ist in Bremen besonders ausgeprägt, nach einem Arbeitsplatzverlust keine neue Stelle zu finden: In der Beschäftigtenbefragung der Arbeitnehmerkammer hält dies knapp die Hälfte der 55- bis 67-Jährigen für möglich. Insgesamt sind die Beschäftigen deutlich optimistischer, dass es kaum oder keine Schwierigkeiten bei der Stellensuche gibt. Das gaben 71 Prozent an.
Will die Generation ihren Arbeitsplatz wechseln?
Eine Personalagentur aus Stuttgart befragte fast 3.000 Beschäftigte zwischen 50 und 65 Jahren. "Das bemerkenswerte Ergebnis: Mehr als 40 Prozent von ihnen können sich einen Jobwechsel in den nächsten zwei Jahren vorstellen", berichtete der Geschäftsführer der Königsteiner Gruppe Nils Wagener im Magazin "Haufe". Viel zu oft werde in der Diskussion die junge Generation in den Blick genommen. "Dabei lohnt es sich, viel mehr auf diejenigen zu schauen, die oft voreilig zum 'alten Eisen' gezählt werden." Die Gründer des Vermittlungsportals "Perspektive 50 Plus" haben die Marktlücke erkannt. Auf der Seite sollen Arbeitnehmer ab 50 Jahren neue Stellen finden können. "Seitens der Unternehmen fehlt unserer Meinung nach noch etwas das Interesse für die Zielgruppe", sagt Geschäftsführer Daniel Werner. Das werde sich sicherlich in den nächsten Jahren "noch extrem verändern".
Das Unternehmen Neusta aus Bremen will allen Bewerbern die gleichen Chancen geben – unabhängig vom Alter. Beschäftigte mit Berufserfahrung suche man stets, sagt der Chef des IT-Dienstleisters Carsten Meyer-Heder. "Insofern ist die Gruppe der IT-Fachkräfte 50 plus interessant für uns." Aus seiner Sicht wäre es "wünschenswert, dass der Aspekt ,Alter’ im Bewerbungsprozess aller Unternehmen irrelevant ist" und dies nicht erst durch den Fachkräftemangel geschehe.