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Thorsten Spinn im Interview Chef des Bremer Jobcenters zu Hartz IV: "Echte Teilhabe kaum möglich"

In Bremen ist jeder Siebte auf Hilfe des Jobcenters angewiesen. Geschäftsführer Thorsten Spinn will vestärkt mehr Frauen unterstützen. Im Interview erklärt er, warum er sich über das Ende von Hartz freut.
10.12.2021, 09:46 Uhr
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Chef des Bremer Jobcenters zu Hartz IV:
Von Lisa Schröder

Herr Spinn, SPD, Grüne und FDP wollen Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen. Wie lesen Sie das, was dazu im Koalitionsvertrag steht?

Thorsten Spinn: Einiges ist noch sehr abstrakt, anderes schon konkreter. Ich begrüße, dass der Begriff Hartz IV verschwinden soll, weil er negativ behaftet ist – und damit auch unsere Arbeit. Ich bin gespannt, ob es gelingen wird. Schon heute steht Hartz IV eigentlich in keinem Gesetz.

Welche Punkte sagen Ihnen daneben zu?

Ich sehe viele gute Ansätze, die wir teils schon jetzt umsetzen. Wegen Corona gibt es einen vereinfachten Zugang zur Grundsicherung. Damit haben wir in der Pandemie gute Erfahrungen gemacht. Menschen sollen auf zwei Jahre in ihren Umständen sicher leben können. In der Zeit geht es nicht an die Altersvorsorge. Ich muss also nicht die Sorge haben, dass ich gleich alles verliere, was ich mir vielleicht über Jahre aufgebaut habe, wenn ich die Grundsicherung beziehe. Außerdem kann ich in meiner Wohnung bleiben, ob sie nun angemessen groß ist oder nicht. Das finde ich sehr richtig, dass das auch in Zukunft geplant ist.

Offen ist der wichtigste Punkt: Was ist mit der Höhe der Grundsicherung? Gerade hat es eine Anpassung von Hartz IV gegeben. Um drei Euro.

Die scheint natürlich – auch in Anbetracht der aktuellen Inflation – fast wie ein Witz. Wenn man überlegt, dass wir am Existenzminimum arbeiten, dann erscheint mir die Höhe eher zu niedrig angesetzt. Das ist am Ende des Tages aber eine politische Entscheidung. Es gibt dafür eine Expertenkommission.

Was schlagen Sie vor?

Ich denke, es muss immer einen Anreiz geben, arbeiten zu gehen. Es muss sich lohnen – auch finanziell. Dafür ist ein angemessenes Verhältnis zwischen der Grundsicherung und den Arbeitseinkommen wichtig. Ich begrüße darum die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Die einseitige Forderung nach einer höheren Grundsicherung würde ich für nicht richtig halten.

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Ist denn die jetzige Höhe aus Ihrer Sicht in Ordnung? Im Koalitionsvertrag heißt es, dass das Bürgergeld die "Würde des und der Einzelnen achten" und "zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen" soll. Wie ist das mit den Beträgen, die es heute gibt, möglich?

Wir befinden uns da sehr am unteren Rand. Eine echte Teilhabe ist kaum möglich mit diesen Beträgen. Wenn ich zum Beispiel den aktuellen James Bond im Kino gucken will, bin ich für Tickets, Popcorn und Cola schnell bei 20 Euro. Das ist nicht einfach abzuzweigen.

Warum ist der Begriff Hartz IV zum Problem geworden?

Ich habe das Gefühl, dass der Begriff sehr an den äußeren Enden diskutiert wird. Einige verbinden mit Hartz IV ein System, das Menschen drangsaliert und mit Sanktionen überzieht. Und auf der anderen Seite höre ich, die Menschen wollen alle nicht und nutzen das Sozialsystem aus. Die Wirklichkeit spielt sich aber überwiegend dazwischen ab. Menschen geraten unverschuldet in die Situation. Aus ganz vielen unterschiedlichen Gründen kommen sie nicht raus. Ich glaube, dass es gut ist, wenn der Begriff verschwindet. Er ist für die Menschen schon an sich belastend.

Sagen Sie Hartz IV?

Ich selber? Nein. Wobei ich den Begriff verwende, wenn jemand mit der Grundsicherung oder genauer Arbeitslosengeld II nichts anfangen kann. Es nützt ja nichts, wenn ich an den Menschen vorbeirede. Ich vermeide den Begriff aber, wo es geht.

Gilt das als Appell fürs ganze Haus?

Ja. Das ist eine eindeutige Botschaft. Wenn es den Menschen hilft, sollten wir den Begriff aber verwenden. Das ist grundsätzlich mein Anspruch, die Menschen da abzuholen, wo sie sind.

Der Chef der Bremer Arbeitsagentur sagte gerade, der hiesige Arbeitsmarkt habe die Pandemie überwunden – vielleicht sogar mehr. Teilen Sie die Einschätzung von Joachim Ossmann?

Wir schauen uns unterschiedlichste statistische Größen an. Da sind wir tatsächlich auf einem niedrigeren Niveau als vor der Pandemie. Wir haben weniger Kundinnen und Kunden. Ich unterstütze die Aussage also, wenn ich auf das Jobcenter insgesamt schaue. Allerdings haben einige Gruppen weniger stark vom Aufschwung profitiert. Es sind auch mehr Menschen von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen als vorher.

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Wie viele Menschen beziehen derzeit Leistungen des Jobcenters?

Es sind aktuell 78.000 Menschen. Man kann also sagen, dass jede siebte Bremerin und jeder siebte Bremer von uns in unterschiedlichster Höhe Leistungen der Grundsicherung bekommt.

Welche Gruppe macht Ihnen besondere Sorgen? Wo sollen Ihre Anstrengungen noch größer werden?

Frauen hatten es schon vor der Pandemie schwerer. Das hat sich jetzt verstärkt. Wir haben schon vor Corona damit begonnen, uns um die Frauen intensiver zu kümmern, insbesondere um Alleinerziehende oder auch geflüchtete Frauen. Über unsere Angebote sollen Frauen eine Arbeit oder Ausbildung aufnehmen können. Wir haben zum Beispiel gerade mit der Senatorin für Kinder und Bildung und der Arbeitssenatorin eine flexible Kinderbetreuung geschaffen.

Wie viel Förderung war in diesem Jahr trotz Pandemie möglich?

In diesem Jahr stand uns mehr Budget als jemals zur Verfügung. Wir hätten 78 Millionen Euro ausgeben können. Wir hatten uns vorgenommen, bis zum jetzigen Zeitpunkt 10.500 Menschen zu unterstützen. Das ist uns nicht ganz gelungen. Das erste Halbjahr war schwer für uns. Wir wollen die Menschen nämlich nicht zu etwas zwingen, sondern sie überzeugen, warum eine Maßnahme sinnvoll ist. Das geht am besten im persönlichen Gespräch. Wegen Corona war das aber nicht immer möglich.

Welche Summe konnten Sie ausgeben?

Wir haben insgesamt 59 Millionen Euro ausgegeben. Das ist ein Höchstbetrag. Ich will nicht verhehlen, dass wir rund zwölf Millionen Euro also wahrscheinlich nicht nutzen werden. Der Betrag fließt wieder zurück an den Bund. Ich glaube aber, dass wir alle unterstützen konnten, die ein Anliegen an uns hatten.

Weil Sie es gerade ansprachen: Wie viel Zwang gibt es für Menschen in der Grundsicherung?

Grundsätzlich gibt es einen Rechtsanspruch auf Grundsicherung. Jeder kann einen Antrag darauf stellen – es ist hier niemand ein Bittsteller. Der Gesetzgeber erwartet aber, dass die Menschen daran mitwirken, wieder selbst den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Die Grundsicherung ist nicht auf Dauer ausgelegt. Wir haben an der Stelle als Jobcenter eine Verpflichtung. Die Beratungen sind eben nicht freiwillig. Wenn jemand nicht kommt, müssen wir Sanktionen prüfen. Mein Anspruch an die Beschäftigten ist aber ganz klar: Wir wollen überzeugen.

Wenn Sanktionen greifen, kann das für Menschen dramatisch sein. Wie stehen Sie generell zum Prinzip?

Ich finde es schon richtig, dass wir in der Zusammenarbeit Verbindlichkeit herstellen können. Die Vergangenheit hat durchaus gezeigt, dass es auch Menschen gibt, für die ein Schuss vor den Bug ganz gut ist. Ich wünsche mir von einer künftigen Gesetzgebung bei den Sanktionen aber mehr Flexibilität. Wir müssen auch entscheiden können: Nein, hier tritt jetzt keine Sanktion ein. Denn es gibt Menschen, die das in Bredouille bringt. Und sie verlieren dann den Glauben ans Jobcenter.

Seit einem Jahr sind Sie der Chef des Jobcenters. Was haben Sie sich für Ihre Amtszeit vorgenommen?

Ich möchte gute Rahmenbedingungen für die Arbeit hier im Jobcenter schaffen, weil wir den Menschen dann auch besser helfen können. Im Moment sind wir das siebtgrößte Jobcenter Deutschlands.

Obwohl Bremen nicht die siebtgrößte Stadt ist.

Genau. Das zeigt die Betroffenheit der Menschen von der Grundsicherung. Für uns ist die Größe natürlich kein Qualitätsmerkmal. Mein Ziel ist es, aus den Top Ten rauszufallen. Uns sollte es gelingen, eher kleiner zu werden. Denn das heißt, dass mehr Bremerinnen und Bremer selbstbestimmt von ihrem Einkommen leben können. Einen Schwerpunkt möchte ich auf die Förderung von Frauen legen.

Das Gespräch führte Lisa Schröder.

Zur Person

Thorsten Spinn

ist seit 2020 Geschäftsführer des Jobcenters Bremen. Zuvor war der gebürtige Wilhelmshavener unter anderem beim Jobcenter Hannover und der Regionaldirektion Niedersachsen/Bremen in Führungsverantwortung. In Mannheim absolvierte er bei der Bundesagentur für Arbeit zunächst ein Studium zum Verwaltungswirt.

Zur Sache

Wer Leistungen bezieht

Ein Großteil der Menschen, die auf Grundsicherung des Jobcenters Bremen angewiesen sind, hat keinen Berufsabschluss. "Wir sind überzeugt, dass der Einstieg ins Berufsleben mit einer Ausbildung oder einem Studium maßgeblich wichtig ist, um Langzeitarbeitslosigkeit vorzubeugen – und weitergedacht auch Altersarmut", sagt dazu Thorsten Spinn. In der Grundsicherung seien auch Menschen, die von ihrem Einkommen nicht leben könnten. In Bremen betreffe das rund 11.000 Menschen. In bestimmten Branchen, dem Hotel- und Gaststättengewerbe oder dem Einzelhandel, reiche der Lohn häufiger nicht zum Leben aus, vor allem, wenn nur eine Teilzeitstelle möglich sei. "Gerade da sind häufig Frauen beschäftigt", sagt der Chef des Jobcenters.

Während Corona waren auch mehr Selbstständige auf Grundsicherung angewiesen. Im April und Mai 2020 gab es zeitweise 1600 Anträge. Die Zahl der Selbstständigen lag damit beim Jobcenter rund doppelt so hoch wie gewöhnlich. Spinn geht davon aus, dass noch mehr Unternehmer Anspruch auf die Leistung gehabt hätten, es aber eine Hürde gab, die Hilfe anzunehmen: Viele dächten, Hartz IV sei für bestimmte Menschen vorgesehen, zu denen man sich selbst nicht zähle. "Für viele war es nicht vorstellbar, dass sie jemals mit der Grundsicherung in Verbindung gebracht werden." Diese Gedanken stünden auch mit der negativen Wahrnehmung von Hartz IV in Zusammenhang.

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