Frau Keil, im „Cinema“ in Bremen ist gerade der Film „Eleanor & Colette“ angelaufen. Er handelt von einer Schizophrenen, die über die Dosierung ihrer Medikamente selbst entscheiden will und deshalb vor Gericht zieht. Die Handlung basiert auf einer wahren Begebenheit. Halten Sie den verfilmten Fall für typisch?
Annelie Keil: Dass sich ein Patient auf diese Weise sein Recht erstreitet und in einer Anwältin solche Unterstützung findet, ist sehr ungewöhnlich. Die Situation, in der die Kranke sich befand, nicht. In dem Moment, in dem eine psychische Krankheit diagnostiziert und aktenkundig wird, wird der Kranke Objekt eines Hilfs- und Behandlungssystems. Die Krankheit kommt in professionelle Hände, die Profis entscheiden, was nach ihrem erlernten Wissen und Gewissen zu tun und zu lassen ist. Ein Patient in verwirrtem seelischen Zustand kann sich damit noch weniger kritisch auseinandersetzen als ein körperlich erkrankter oder gesunder Mensch. Außerdem ist fast die gesamte Forschung von der Pharmaindustrie diktiert und damit auf die Behandlung durch Medikamente wie Neuroleptika fokussiert. Viele von ihnen haben – wie im Film geschildert – starke Nebenwirkungen. Es muss aber möglich sein, dass Patienten mit ihren Ärzten zusammen entscheiden, ob, wann und unter welchen Umständen und Folgen sie diese Behandlung in Kauf nehmen wollen.
Wenn sie dazu überhaupt befähigt werden. Bis heute werden psychiatrische Patienten ruhiggestellt, mitunter fixiert, unwürdigen Methoden ausgesetzt. Sie – und andere Gesundheitsexperten – stellen fest, dass es auf diese Weise zu massiven Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie kommt.
Das ist so, weltweit, bewusst und unbewusst. Zivilisationsgesellschaften, die auf Rationalität setzen, haben Schwierigkeiten mit allem umzugehen, was sich nicht in ihr Raster von Normalität und Anpassung fügt. Die erste Reaktion ist, diese Menschen, wie man so sagt, aus dem Verkehr zu ziehen. Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelte sich die Antipsychiatrie-Bewegung. Ihr ging es um die Auflösung der großen Anstalten, um die Aufarbeitung der Folgen des Faschismus für Behinderte und seelisch Kranke, um Skepsis gegenüber Medikationen und um die Einführung therapeutischer Methoden. Aber die Psychiatrie hat zwei Aufgaben: Die eine ist, so zu handeln, dass man die erkrankten Menschen überhaupt behandeln kann und wirklich als Patienten wahrnimmt. Dazu können notfalls Medikamente und stationäre Aufnahmen unumgänglich sein. Die andere Aufgabe ist, sie angemessen und würdig zu behandeln.
Offenbar ist es nicht einfach, aus diesem System herauszukommen, wenn man einmal hineingeraten ist. Es kann zu Wechselwirkungen kommen: Der Patient bekommt dämpfende und beruhigende Medikamente, damit es ihm besser geht, sie verhindern aber schlimmstenfalls auch, dass er sich mit der Medikation und seiner Lage auseinandersetzt.
Das stimmt. Dabei zeigt der Film „Eleanor & Colette“ auch etwas, was oft übersehen wird: Der Mensch ist mehr als sein Befund. Wenn man krank ist, ist man nie ganz krank. Man darf den Patienten nicht unterstellen, dass sie nichts mehr mitbekommen, dass sie nicht merken, wenn ihnen keiner zuhört, dass sie nicht merken, wenn sie angeschrien oder beleidigt werden, dass sie nicht merken, wenn man sie behandelt wie Kleinkinder. Es reicht nicht über die Würde des Menschen zu reden, wenn man nicht weiß, was es heißt, andere zu würdigen. Interessanterweise führen wir über die Demenz-Patienten momentan im Grunde die gleiche Debatte, doch dort sind wir schon weiter, weil das Thema in den letzten Jahren sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Wir kümmern uns mehr, nehmen öffentlich Anteil und ahnen, dass es uns selbst auch treffen kann. Es gibt für Demente hervorragende Pflege- und Wohnprojekte. Die Familien sind näher dran. Bei Psychiatriepatienten gibt es eine enorme Lücke zwischen den beiden Polen Anstaltseinweisung und Wegsperren und Sich-selbst-überlassen-bleiben. Es gibt ein paar vorbildliche Modellprojekte, vor allem für die Erstbehandlung junger Menschen, aber viele sind immer finanziell gefährdet.
Woran liegt das?
Diese Gesellschaft tendiert dazu, Menschen, die gewissermaßen nicht der Norm entsprechen und vielleicht auch nicht beherrschbar sind, aus ihrem Gesichtsfeld zu entfernen, um sich nicht mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. Es gibt keine große Lobby für diese Menschen.
Sieht es in Bremen besser aus als anderswo? Das Land war in den 1980er-Jahren ein Vorreiter in der Psychiatriereform und löste die Anstalt Blankenburg auf.
Nein, leider nicht, zumindest ist zu viel auf der Strecke geblieben, und das ist nicht nur das Versagen der Krankenanstalten. Erst vor zwei, drei Wochen hat die Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie scharf und, wie ich glaube, zu Recht kritisiert, dass Bremen über befristete Modellprojekte nicht hinauskomme und das Klinikum Bremen-Ost von einer reformierten Psychiatrie weit entfernt sei. Diese Herausforderung aber geht auch an die Politik und uns, die Bürgergesellschaft, die mitverantwortlich ist.
Glauben Sie, dass der Film helfen kann, etwas zu ändern oder anzustoßen?
Das lässt sich schwer sagen. In Bayern gibt es einen stark kritisierten Entwurf für ein neues Psychiatriegesetz. Bei den Reformen geht es vor allem um Gefahrenabwehr und das Sammeln von Daten. Das ist ein großer Rückschritt. Wir brauchen ganz dringend eine transparente öffentliche Diskussion über die Lage der Psychiatrie und ihrer Patienten in Deutschland. Der Film kann nur Wirkung entfalten, wenn sich jeder Zuschauer anschließend vor den Spiegel stellt und fragt, ob er es mit einem solchen Kranken zumindest zeitweise aushalten kann, ob er wie die Anwältin oder der Arzt im Film große Risiken eingeht, um der Patientin zu helfen. Wer sich darauf zurückzieht, dass er selbst nicht betroffen ist, hat nicht verstanden, dass wir alle Teil eines Systems sind, dass die Verrückten, die Alten, die Schwachen und Unangenehmen in die Ecke schiebt.
Das Gespräch führte Silke Hellwig.
Annelie Keil ist Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin. Sie war 1971 an der Gründung der Bremer Uni beteiligt und lehrte dort bis 2004. Im selben Jahr wurde ihr das Bundesverdienstkreuz am Bande für ihre ehrenamtliche Arbeit zur Förderung von Bürgerengagement, Jugendbildung und gesundheitlicher Beratung und Selbsthilfe verliehen.