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Pendler im Zug-Chaos Jede Fahrt ein Abenteuer

Was Berufspendler zwischen Bremen und Hamburg jeden Tag in den Zügen der Deutschen Bahn erleben. Unterwegs mit einer Gruppe von leidgeprüften Kunden des Konzerns.
10.05.2019, 22:25 Uhr
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Jede Fahrt ein Abenteuer
Von Marc Hagedorn

Normalerweise würden sie um diese Zeit im ICE nach Hamburg sitzen. Treffpunkt Bordbistro. So machen Gudrun Krüßmann, Martina Renken und Stefan Roemer es seit Jahren. Aber seit Jahren gehört auch zur Routine, dass es nicht so kommt wie geplant. Wenn auf eines bei der Deutschen Bahn Verlass ist, das haben sie gelernt, dann, dass auf nichts Verlass ist. Krüßmann, die seit elf Jahren pendelt, sagt: „Das ist der Wahnsinn, was wir schon erlebt haben.“ Deshalb hat sie den WESER-KURIER eingeladen, sie auf ihrem täglichen Weg ins Büro zu begleiten.

Abfahrt soll um 7.17 Uhr von Gleis 9 am Hauptbahnhof sein. Am Telefon sagt sie am Abend vorher: „Am besten schauen Sie morgen früh gleich um sechs Uhr auf Ihr Handy. Ich melde mich, wenn es Probleme gibt.“ Am nächsten Morgen schreibt sie tatsächlich eine SMS. Es ist 5.44 Uhr. „Guten Morgen, leider Ersatzzug, deshalb Treffen um 6.55 am Fahrstuhl.“ Lagebesprechung.

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Ende März 2019. Die Deutsche Bahn hat in Berlin zur Bilanzpressekonferenz für das abgelaufene Geschäftsjahr geladen. Der Vorstandsvorsitzende der Bahn, Richard Lutz, hat lauter frohe Botschaften zu verkünden. „Bahnfahren wird immer beliebter“, stellt der Bahnchef zum Beispiel fest. Die Medienabteilung des Konzerns hat die Veranstaltung perfekt vor- und aufbereitet. Auf der Homepage sind die Redebeiträge der Vorstände immer noch nachzulesen und zu hören, es gibt Grafiken zum Herunterladen. Lutz sagt, dass die Bahn im vergangenen Jahr 24 000 Mitarbeiter eingestellt und 5500 neue Stellen geschaffen habe. „Davon ist hier aber nichts zu spüren“, sagt Gudrun Krüßmann.

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Sie sitzt jetzt im IC nach Hamburg. Es ist der Ersatzzug für den ausgefallenen ICE. Ohne Bordbistro. Ohne WLAN. Und kürzer als der ursprünglich vorgesehene Zug ist er auch, was bedeutet: weniger Sitzplätze. Pech haben die Reisenden, die reserviert hatten. Ihre Plätze verfallen. Immerhin: In seinem ersten Leben bei der Bahn war der Waggon ein Erste-Klasse-Wagen. Ein Sechserabteil ist noch leer, als Krüßmann und ihre Begleiter Platz nehmen. Fünf Minuten später sind alle Abteile belegt. Auf dem Gang begegnen sich ein Mann, einen Rucksack vor den Bauch geschnallt, ein Rucksack auf dem Rücken, und ein Herr, der einen Rollkoffer zieht. Jetzt wird‘s eng, Körper an Körper. Das sieht lustig aus, wie sich die Männer umeinander winden. Aber wenn man das, wie Krüßmann, zu oft sehen muss, verfliegt der Charme des Skurrilen bald.

Ein streng durchgetaktetes Leben

Martina Renken sitzt am Fenster. Sie hat eine Liste ausgedruckt und vor sich auf das Tischchen gelegt. Drei Seiten lang, für jeden Monat bis März eine. In einer Tabelle hat sie ihre täglichen Zugfahrten und besondere Vorkommnisse festgehalten. An 21 Tagen hat sie im Januar gearbeitet, hinter 15 Tagen stehen in den Spalten Einträge wie: 25 Minuten Verspätung; keine Heizung, kein Kaffee im Bord-Restaurant; Ersatzzug, + 10 Minuten; Zugausfall; Ersatzzug, zu wenig Wagen, überfüllt; kein Wasser, daher kein Kaffee im Bord-Restaurant; + 15 Minuten wegen Signalstörung. Im Februar gibt es zwischen dem 13. und 28. nur einen einzigen Tag, an dem alles nach Plan läuft. Die Top-Verspätung sind 55 Minuten wegen Vandalismus, einmal sind es 40 Minuten wegen einer Streckensperrung.

Das Leben als Pendler ist streng durchgetaktet. Gudrun Krüßmann ist Büroleiterin an einer Hamburger Klinik. Martina Renken ist Assistentin der Hamburger Niederlassungsleitung einer Spedition. Stefan Roemer ist von Haus aus Chemiker und bei einem schwedischen Gerätehersteller für die Lebensmittel- und Agrarindustrie angestellt. „Wenn es unsere Jobs auch in Bremen gäbe, würden wir nicht pendeln“, sagt Krüßmann. „Freiwillig macht man das nicht.“

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Pendeln frisst Zeit, und es killt Lebensqualität. Selbst wenn alles glatt läuft, sitzen Krüßmann, Renken und Roemer für beide Wege mindestens drei Stunden in Zügen und S-Bahnen. Wenn sie abends Verabredungen fürs Kino, für Konzerte oder mit Freunden haben, planen sie stets großzügige Puffer ein. Sie fahren dann einen Zug früher oder wählen die langsamere Variante – den Metronom. Dessen Vorteil: Er fährt verlässlicher. „Zum Glück gibt es die Bahn-App“, sagt Roemer. Jeden Morgen im Bad checkt er den Fahrplan. Der erste Blick ins Handy entscheidet darüber, wie der Tag wird: hektisch und getrieben, weil wieder mal ein Zug ausfällt? Oder relativ entspannt, weil die Bahn ihren Job macht?

Für den 26. Februar hat Martina Renken in ihrer Dokumentation fünf Minuten Verspätung notiert. Die Verspätung aus dieser Fahrt wird es nicht in die offizielle Bahn-Statistik schaffen, denn für die Bahn gilt ein Zug erst als verspätet, wenn er sechs Minuten hinter der planmäßigen Zeit liegt. Ebenfalls in keiner Statistik tauchen die Züge auf, die komplett ausfallen. „Die Pünktlichkeit ist der zentrale Indikator für die Produktqualität“, heißt es im aktuellen Geschäftsbericht der Bahn. „Wenn das so ist, dann hat die Bahn ein Qualitätsproblem“, sagt Krüßmann. Jeder vierte Zug im Fernverkehr kommt zu spät.

Der Zug der Bremer Pendler fährt jetzt los. Seit dem 1. April sind Krüßmann, Renken und Roemer Besitzer eines ICE-Abos. Weil die Bahn die Fahrpläne geändert und Züge getauscht hat, müssen die Fahrgäste nun draufzahlen. Für eine Übergangszeit von drei Monaten ließ die Bahn die treuen Kunden noch auf dem alten IC-Ticket reisen, nun zahlen sie monatlich 284 Euro, das sind 14 Euro mehr als vorher. Eine Prämie von 150 Euro hatte die Bahn beim Wechsel vom IC- zum ICE-Ticket versprochen, die Summe sollte direkt mit der Abo-Rate verrechnet werden. Passiert ist das bis heute – nicht. „Angeblich soll es im Mai nun klappen“, sagt Krüßmann.

"Nichts mit digital"

Weil die Reisenden heute mit einem Ersatzzug vorlieb nehmen müssen, können sie beim Zugbegleiter Bescheinigungen einfordern. 3,50 Euro erstattet die Bahn bei Vorlage später. Krüßmann öffnet ihr Portemonnaie, sechs Bescheinigungen hat sie gesammelt. „Willkommen im Jahr 2019“, sagt sie, „nichts mit digital, stattdessen gibt man die Originale aus der Hand.“ Wenn man sie überhaupt in die Hand bekommt. „Sie müssen ausdrücklich danach fragen“, sagt Roemer.

Wie aufs Stichwort schiebt der Zugbegleiter die Tür zum Abteil auf. Er kontrolliert die Tickets. „Und dann hätten wir gern noch die Bescheinigungen“, sagt Krüßmann. „Was meinen Sie?“, fragt der Mann. Krüßmann zeigt auf das Gerät, das der Mann in der Hand hält. „Die Ausdrucke, die hier aus Ihrem Apparat kommen.“ Der Mann blickt etwas ratlos auf das mobile Terminal, wie der Apparat im Bahn-Jargon heißt. „Sie müssen unter Eingang und Sonstiges drücken“, sagt Krüßmann. Und wie zum Trost: „Das mussten wir einer Kollegin von Ihnen kürzlich auch erst erklären.“ Der Mann tippt auf dem Display herum. Und dann strahlt er: „Gucken Sie mal“, sagt er und händigt das Zettelchen aus. „Für mich bitte auch“, sagt Renken. „Und für mich auch“, sagt Roemer. „Sieben Belege kann ich noch drucken“, sagt der Zugbegleiter, als er sich verabschiedet. Wenn das kein Witz war, werden viele Fahrgäste an diesem Morgen leer ausgehen.

Die Bremer Pendlergruppe nimmt die täglichen Überraschungen mit einer Mischung aus Fatalismus und Humor. „Es ändert ja nichts, warum sollen wir uns jedes Mal die Laune verderben lassen?“, fragt Renken. Roemer sagt: „Mich würde mal interessieren, wie innerhalb der Bahn kommuniziert wird, und wie die Bahn ihre Mitarbeiter informiert.“ Noch so ein Beispiel ist nämlich die Nummer mit dem Kaffee. Becher in S-, M- und L-Größe gibt es seit Kurzem, zur Einführung hat die Bahn die Getränke 30 Cent günstiger gemacht – und dann offenbar die ursprünglich angedachte Einführungsphase verlängert. „Wäre nur schön, wenn davon auch das Personal etwas wüsste“, sagt Roemer. Denn je nach Mitarbeiter zahlen die Bremer jetzt mal 30 Cent mehr, mal 30 Cent weniger pro Becher. „Es ist jeden Tag anders“, sagt Renken. Heute sind es 30 Cent weniger.

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Rotenburg, Tostedt und Buchholz sind inzwischen am Fenster vorbeigezogen, ein Blick auf die Uhr zeigt: Pünktlich schafft es der Zug nicht mehr bis zum einzigen Halt vor Hamburg in Harburg. Seit der Bahnreform 1994 sind im deutschen Netz jeder fünfte Meter Gleis und jede zweite Weiche stillgelegt worden. Weniger Weichen bedeuten weniger Überholmöglichkeiten. Weniger Schienen bedeuten weniger Ausweichstrecken. Bedeuten dichteren Verkehr auf den Hauptstrecken. Bedeuten mehr Verspätungen und Wartezeiten. Hamburg ist dafür ein Paradebeispiel. Vier sogenannte Plankorridore hat die Bahn lokalisiert, auf denen sich die Züge am meisten stauen, darunter auch „Hamburg und Zulauf“, wie es im Bahn-Papier heißt. Hier soll verstärkt etwas getan werden. „Wäre ja schön“, sagt Krüßmann. Aber sie sieht nicht so aus, als ob sie daran glaubt.

Der Zug hat Harburg inzwischen erreicht. Um 8 Uhr sollte er hier sein, 8.08 Uhr ist es geworden. Krüßmann und Roemer steigen aus. Renken muss weiter bis zum Hauptbahnhof. Der Bahnvorstand hat im März „mehr Züge, mehr Personal, besseres Management“ versprochen. Tatsächlich ist die Bahn dabei, den Investitionsstau der vergangenen Jahre abzuarbeiten. Sie hat gerade 23 neue IC-Züge für 550 Millionen Euro bestellt. Renken ist skeptisch: „Die Erfahrungen der letzten Jahre sprechen nicht dafür, dass es besser wird.“ Sie hält die Bahn für eine wunderbare Alternative zum Autoverkehr. Aber sie ist maßlos enttäuscht davon, wie wenig das Management beziehungsweise die deutsche Verkehrspolitik für die Schiene tun. Nur zwei Zahlen: Während das Straßennetz seit 1994 um 247 000 Kilometer gewachsen ist, hat die Bahn lediglich 1700 Kilometer Strecke neu gebaut. „So bekommt man die Leute nie auf die Schiene“, sagt sie.

Der Zug erreicht jetzt Hamburg, aber bevor er in den Hauptbahnhof einfahren kann, vergehen weitere Minuten. Alle Gleise sind besetzt. Die versprochene Ankunftszeit von 8.12 Uhr war zwischendurch auf 8.20 Uhr korrigiert geworden. Tatsächlich ist es 8.23 Uhr, als Renken auf den Bahnsteig tritt. In ihre Monatsstatistik kann sie nachher im Büro für diese Fahrt elf Minuten Verspätung eintragen.

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„Ich bin frustriert und übermüdet“

Das Leben als Pendler ist nicht leicht, das Leben als Bahnmitarbeiter aber auch nicht. Kürzlich sorgte der öffentliche Brief eines Lokführers für Furore, der seine Chefs ordentlich anzählte: "Die Steigerung von Deutsche Bahn heißt Chaos, und das ist noch ein Kompliment. (...) Wir haben 10 000 Häuptlinge und 100 Indianer", schrieb der Mann und berichtete von Sechs-Tage-Wochen und mehr als 400 Überstunden. „Ich bin sowas von frustriert, demotiviert, überarbeitet, übermüdet." Das Management versprach, Lösungen zu finden. Konsequenzen für den Lokführer hatte die Kritik nicht.

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