Künstliche Intelligenz, virtuelle Realität, selbstfahrende Autos – wir leben in einer digitalen Welt. Die moderne Technik ist allerdings kein Allheilmittel für jede Branche. „Wir haben zwar schon mit Lasermessgeräten gearbeitet“, sagt Jan Dirk Brüggemann, Geschäftsführer der Hermann Runge GmbH. „Aber das hat sich als nicht zuverlässig genug herausgestellt.“ Auch das Tablet sei bei Wind und Wetter kein praktisches Werkzeug. Deshalb arbeiteten seine Mitarbeiter und er noch mit Maßband, Messlatte und Klemmbrett. Seine Mitarbeiter und er sind Tallymänner.
Tallymänner arbeiten in Seehäfen. Die moderne Berufsbezeichnung ist Fachkraft für Hafenlogistik. Sie kontrollieren das Be- und Entladen von Frachtschiffen. Eine ihrer Aufgaben ist das Zählen der Güter, daher stammt auch ihr Name: Das Wort tally heißt so viel wie abhaken. Das ist aber nicht alles. „Wir passen auf die Ware im Hafen auf, begutachten sie und dokumentieren das Ganze genau“, sagt Geschäftsführer Jan Dirk Brüggemann. Das tut die Firma Hermann Runge inzwischen seit 375 Jahren.
Wie die Arbeit der Tallymänner aussieht, lässt sich an einem vereinfachten Beispiel erklären. Ein Spediteur liefert 100 Fässer, die im Hafen nach Übersee verschifft werden sollen. Die Fässer werden zunächst eingelagert. Danach beginnt die Arbeit der Tallymänner, die Überprüfung der Lieferung: Sind es wirklich 100 Fässer? Wie sind ihre Maße? Sind die Markierungen zur Kennzeichnung der Ladung korrekt? „Wir prüfen auch die äußere Beschaffenheit“, sagt Hans-Peter Brüggemann. Er ist Inhaber der Hermann Runge GmbH und weder verwandt noch verschwägert mit seinem gleichnamigen Kollegen. „Wenn bei drei Fässern schon der Deckel lose ist und das Fass leckt, dann melden wir das. Eventuell kommt dann eine Reparatur-Crew und stellt die Fässer wieder her. Oder es werden doch nur 97 verladen.“
„Manchmal kommt es auf den Zentimeter an“
Aber wieso braucht es Tallymänner, wenn es Lieferscheine gibt? Das hat unter anderem mit dem Verstauen der Ladung im Schiff zu tun. Wenn die Ladung mit Verpackungsmaterial auf einmal größer als im Lieferschein angegeben ist, gibt es Probleme. Es könne etwa passieren, dass Ware verpackt werde und im Anschluss die neuen Maße nicht notiert werden. „Manchmal kommt es auf den Zentimeter an“, sagt Jan Dirk Brüggemann. Die Stauer und die Reederei müssen genau wissen, wie die Ware vor Ort aussieht. Tallymänner sind unabhängig, neutral und unbestechlich. Auf der Basis ihrer Daten stellt die Reederei das Konnossement aus – ein Frachtbrief, der die Ware begleitet und später dem Empfänger übergeben wird.
Beim Hermann Runge Tallyservice arbeiten 25 Mitarbeiter plus Aushilfskräfte. „Wir haben auch eine Tallyfrau im Team“, sagt Jan Dirk Brüggemann. Die meisten von ihnen haben Seegüterkontrolleur gelernt. Bis in die 1990er-Jahre hatte das Unternehmen noch doppelt so viele Mitarbeiter, aber durch die Containerschiffahrt hat sich das Geschäft verändert. „In den 70er-Jahren gab es noch 10.000 Hafenarbeiter in Bremen, heute sind es nur noch 3000.“ Auch Tallyservices gab es früher mehr. „Von den ursprünglich 15 Tallyunternehmen im Land Bremen sind nur noch wenige übrig“, sagt Hans-Peter Brüggemann. Die Hermann Runge GmbH hat noch weitere Außenstellen, unter anderem in Bremerhaven und Hamburg.
Die Geschichte des Unternehmens reicht weit zurück. Im Heuerschillingsregister, einem Verzeichnis über eine alte Mietsteuer, war bei der Familie Runge der Berufsstand „Höker und Packer“ erstmals im Jahr 1644 vermerkt. Die Berufsbezeichnung wechselte in den folgenden 200 Jahren mehrfach, auch neue Berufsfelder kamen dazu oder verschwanden – aber der Tallyservice blieb Kerngeschäft der Firma. 1854 veröffentlichte der Senat dann die erste „Obrigkeitliche Verordnung, das Messen von Gütern betreffend“, wie ein historisches Dokument zeigt. Hermann Runge und zwei weitere Familienmitglieder wurden als Gütermesser beeidigt.
Ludwig H.W. Brüggemann übernimmt nach dem Zweiten Weltkrieg
1915 schied der letzte Runge aus dem Unternehmen aus, der Firmenname ist jedoch geblieben. Die beiden Weltkriege setzen dem Geschäft schwer zu, den Zweiten überlebt nur ein einziger Mitarbeiter. Der findet in der Nachkriegszeit in Ludwig H.W. Brüggemann einen engagierten Hafenfachmann, der 1948 als Gütermesser beeidigt wird und das Unternehmen übernimmt. Sein Sohn ist Hans-Peter Brüggemann.
Ein Tallymann muss rechnen können. Ganz früher arbeitete er mit dem sogenannten Tallystock – einem Kerb- und Zählholz. Heute ist die Messlatte das übliche Werkzeug, nicht mehr aus Holz, sondern aus Aluminium. Oder auch das Maßband, manchmal in Längen von bis zu 50 Metern. „Es gibt mittlerweile Technologien, die mittels Radiofrequenzen die Waren zählen“, sagt Jan Dirk Brüggemann. „Eventuell können später auch Drohnen bei der Arbeit eingesetzt werden.“ Vielleicht gebe es eines Tages sogar Methoden, mit denen die Waren automatisch und fehlerfrei erfasst werden können. Bis dahin machen die Tallymänner ihren Job wie gehabt – mit Maßband, Messlatte und Klemmbrett.