Die Ariane 6 lässt weiter auf sich warten. Vor Ende nächsten Jahres wird es nichts mit dem Erststart der Trägerrakete, auf der die Hoffnungen der europäischen Raumfahrtindustrie ruhen. Doch noch bevor die erste Ariane 6 endlich auf ihrem Feuerstrahl ins All donnert, denken die Ingenieure bereits über den nächsten Schritt nach: eine Raketenstufe aus Karbon, die billiger und leichter ist als die herkömmlichen Aluminiummodelle. Am Mittwoch unterzeichneten die Europäische Raumfahrtbehörde Esa, der Raketenbauer Ariane und der Zulieferer MT Aerospace die dafür nötigen Verträge.
Für Autos, Fahrräder und Tennisschläger ist Karbon längst ein bewährter Werkstoff. Aber die Raketentechnik stellt höhere Anforderungen ans Material: Im Weltraum ist mehr gefragt als Leichtigkeit und ein gutes Ballgefühl. Deshalb arbeiten Ariane und MT Aerospace bereits seit 2019 im Auftrag der Esa an dem Projekt "Phoebus", einem Versuchsmodell, das die Eignung von Karbon – oder korrekt: Kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff (CFK) – für die Raumfahrt nachweisen soll. "Es ist eines der spannendsten Projekte, das wir haben", sagt Rüdeger Albat, Chef des Esa-Programms zur Entwicklung künftiger Trägersysteme. Mit den am Mittwoch unterzeichneten Verträgen können die Arbeiten bis 2025 fortgesetzt werden: Dann soll das 1:1-Modell einer "schwarzen" Ariane-6-Oberstufe fertig sein und sich in umfangreichen Tests bewähren.
Im Kleinen hat sich bereits gezeigt: Es kann funktionieren mit dem neuen Werkstoff. Aber die Ingenieure können sich ihrer Sache erst sicher sein, wenn ein Raketentank in Originalgröße den Anforderungen standhält. Denn die sind gewaltig. Das Material muss in der Lage sein, von 40 Grad Lufttemperatur am Startplatz in Kourou (Französisch-Guayana) auf minus 250 Grad heruntergekühlt zu werden, wenn der Tank mit flüssigem Wasserstoff befüllt wird – und das zur Not mehrmals, falls der Start abgebrochen und die Prozedur wiederholt werden muss. "Dabei darf es keine Risse geben", sagt Sven Rakers, Entwicklungschef für neue Oberstufen bei Ariane. "Sonst pfeift uns der Treibstoff da raus, und das wollen wir natürlich nicht." Wasserstoff ist ein flüchtiges Wesen und findet die kleinste Ritze.
"Ein wahres Technologiefeuerwerk"
Sauerstoff dagegen, die zweite Komponente des Raketentreibstoffs, zeigt sich eher aggressiv und greift alles an, was ihm nicht edel genug erscheint – siehe rostendes Metall. Auch diesen Attacken muss der künftige Karbontank widerstehen. "Was wir hier brauchen, ist ein wahres Technologiefeuerwerk", sagt Esa-Programmchef Albat.
Falls die Idee zündet, erhoffen sich die Entwickler einiges von dem neuen Werkstoff: Ein Drittel des Gewichts einer herkömmlichen Oberstufe aus Aluminium – selbst schon ein Leichtgewicht unter den Metallen – ließe sich einsparen, rechnet Entwicklungschef Rakers vor. Das bedeutet: mehr Nutzlast. Rund zwei Tonnen zusätzlich könnte eine Ariane 6 mit Karbon-Oberstufe ins All transportieren. Und: CFK-Komponenten können als größere Bauteile gefertigt werden, der Montageaufwand reduziert sich, was am Ende Geld sparen soll.
Die OHB-Tochter MT Aerospace, die die Karbontanks entwickelt, sieht sich mit dem Projekt an der Spitze des Fortschritts. "MT Aerospace erreicht damit die Technologieführerschaft in Europa", sagt Vorstandsmitglied Ulrich Scheib. Das Modell in der Originalgröße einer Ariane-Oberstufe, das am Ende des "Phoebus"-Projekts stehen soll, wäre der größte Kohlefaser-Raketentank, der bislang gebaut wurde.
80 Millionen Euro investiert die Esa in das Projekt. Bis Mitte nächsten Jahres soll ein verkleinertes Modell fertig sein. 2025 stehen dann die Tests mit dem 1:1-Modell beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrttechnik (DLR) in Lampoldshausen (Baden-Württemberg) auf dem Programm. Abheben soll die "schwarze Oberstufe" zum ersten Mal im Jahr 2030 – falls der Zeitplan der Esa dieses Mal aufgeht.