Manchmal beginnt eine Reise ins All mitten im Wald, umringt von Buchen, Eichen und Fichten, aus denen die Vögel zwitschern. Eigentlich deutet im Harthäuser Wald, im Norden Baden-Württembergs gelegen, wenig auf die Nähe des Universums hin. Die Orte ringsherum heißen Lampoldshausen, Möckmühl und Züttlingen. Ab und zu jedoch schießen weiße Dampfwolken aus dem Wald empor, grollt Raketendonner über die Lichtungen. Dann werden im Harthäuser Wald wieder Triebwerke getestet für die nächste Reise ins All.
Sven Dietershagen ist einer der Männer, die für das Getöse verantwortlich sind. Der Luft- und Raumfahrtingenieur arbeitet für den Raketenbauer Ariane und soll dafür sorgen, dass die Oberstufe der neuen „Ariane 6“ eines Tages im Weltall zuverlässig funktioniert. Und weil man das vorher nie so genau wissen kann, wird der Motor der neu entwickelten Raketenstufe erst einmal ausgiebig am Boden getestet – auf den Prüfständen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) im Wald von Lampoldshausen. Seit 1960 werden dort Raketentriebwerke erprobt.
Jede zweite Woche verlässt Dietershagen sein Haus in Syke und den Schreibtisch im Bremer Ariane-Werk und macht sich auf den Weg bis fast ans andere Ende der Republik. Per Auto, per Bahn, per Flugzeug – in den sieben Jahren, die er als Projektleiter für die Triebwerkstests unterwegs ist, hat er schon alle Verkehrsmittel ausprobiert. Die Besitzer des kleinen Hotels, in dem er regelmäßig absteigt, sind Teil der Familie geworden. „Wir feiern sogar Geburtstage zusammen“, sagt der 43-Jährige und lacht.
Aber zum Feiern kommt er natürlich nicht in erster Linie in die württembergische Provinz. Die Arbeitstage sind lang und vollgestopft mit Meetings, Besprechungen und Arbeiten auf dem Teststand. Für die Bremer Oberstufe wurde eigens ein neuer Prüfstand im Harthäuser Wald gebaut: P 5.2 heißt er – ein 30 Meter hoher Turm aus Beton und Stahl, der einiges aushalten muss. Schließlich soll er nicht abheben, wenn das „Vinci“-Triebwerk der Oberstufe zündet, sondern die Rakete im Zaum halten. 300 Tonnen Schubkraft kann der Betonblock aufnehmen, ohne zu wackeln; bis zu 400 Liter Kühlwasser schießen pro Sekunde aus den Düsen, um das flammende Inferno zu bändigen.
1000 Messpunkte registrieren alles
Gleichzeitig registrieren 1000 Messpunkte alles, was die Ingenieure wissen wollen: Drücke, Temperaturen, Strömungsgeschwindigkeiten – die Daten eines Testlaufs füllen am Ende ganze Festplatten. „Natürlich können wir hier nicht alles simulieren, was später im Weltraum passiert“, räumt Dietershagen ein: Das Vakuum, die Schwerelosigkeit, die extremen Temperaturen fehlen – dafür regnet es mitunter. P 5.2 steht nun mal im Wald und nicht auf dem Mond. „Aber wir wollen so viel wie möglich auf dem Teststand durchspielen, bevor es losgeht“, sagt er. Das unterscheidet sie von der US-Konkurrenz, wo seit ein paar Jahren zahlungskräftige Milliardäre ungeniert jede Menge Raketenschrott produzieren lassen, bevor mal ein Start gelingt.
Ungefährlich ist es trotzdem nicht, wenn im Harthäuser Wald wieder ein „Hot Firing Test“ ansteht. Die Ingenieure und Techniker hantieren dort mit Helium-Tanks unter 400 bar Druck, mit minus 250 Grad kaltem Wasserstoff und fast ebenso eiskaltem Sauerstoff, die sofort explodieren, wenn sie sich unkontrolliert zu nahe kommen. Und weil in der Raumfahrt alles in Leichtbauweise gefertigt wird, entsprechen die Tanks „nicht der VDI-Behälternorm, sondern eher einer Cola-Dose“, räumt Dietershagen ein.
Kein Wunder also, dass die Tests sorgfältig vorbereitet werden. „Im Grunde genommen hat ein Testlauf die gleiche Komplexität wie ein richtiger Start“, sagt der Chefingenieur. Der Countdown beginnt fünf Tage vor der Zündung. Von da an folgt alles einer strengen Choreografie – „wie ein Tanz mit genau festgelegten Schritten“, beschreibt Dietershagen das Verfahren: Betanken, befüllen, kühlen, spülen, laden, pumpen, unter Druck setzen – alles passiert an der Raketenstufe in einer exakt geplanten Reihenfolge. Der Testtag selbst beginnt um fünf Uhr morgens und endet selten vor zwei oder drei Uhr in der folgenden Nacht. „Mit den deutschen Arbeitszeitgesetzen lässt sich das eigentlich schwer vereinbaren“, räumt der Testmanager ein.
Zweimal haben sie die Bremer Oberstufe und ihr „Vinci“-Triebwerk samt Hilfsantrieb mittlerweile gezündet, das erste Mal im Oktober vergangenen Jahres. Ihrem Zeitplan hinken sie weit hinterher; die Technik ist kompliziert. Aber vor allem mit dem zweiten Test im Januar ist Dietershagen hochzufrieden. „Wir haben alle Ziele erreicht“, versichert er erfreut. Im Juli ist der dritte Test geplant, der so genau wie möglich den Erstflug der „Ariane 6“ simulieren soll – mit mehrfachen Zündungen der Hilfsantriebe und des Hauptmotors der Oberstufe. „Wenn das gelingt, haben wir von unserer Seite alles getan für den Erstflug“, sagt der Cheftester.
Bislang ist der erste Start einer „Ariane 6“ für Ende des Jahres vorgesehen. Ob es dabei bleibt, wird die Europäische Raumfahrtbehörde Esa nach Abschluss aller Testreihen verkünden. Sven Dietershagen wird sich dann von P 5.2 und seiner Hotelbesitzerfamilie verabschieden; ein neuer Job wartet. Aber schon jetzt ist dem Chefingenieur klar: „So etwas wie das hier werde ich in meinem Beruf kein zweites Mal erleben.“