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Volkswirt Henning Vöpel "Die deutsche Wirtschaft steht vor einem Kipppunkt"

Energie ist in Deutschland teuer. Wie kann da die Zukunft der Industrie aussehen? Volkswirt Henning Vöpel hält Verbote seitens der Politik für den falschen Ansatz – und einen Ruck im Land für nötig.
27.09.2023, 05:00 Uhr
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Von Lisa Schröder

Herr Vöpel, die Aussichten sind düster. Die Wirtschaft in Deutschland ist in jüngster Zeit geschrumpft. Wie schlimm ist es?

Henning Vöpel: Wir befinden uns tatsächlich in einer kritischen Lage. Ähnlich wie beim Klima könnte man sagen: Die deutsche Wirtschaft steht vor einem Kipppunkt. Die Energiepreise sind natürlich das beherrschende Thema, der Fachkräftemangel ein weiteres. Und die Bürokratie ist mittlerweile insbesondere für den Mittelstand zu einer echten Belastung geworden. Die Digitalisierung der Behörden kommt nicht voran. Wir stecken in einer Art Transformationsfalle fest.

In Bezug auf das Klima meint Kipppunkte Momente, an denen ein irreparabler Schaden entstanden ist – wo ein Eingreifen zu spät ist. Das sehen Sie für die Wirtschaft hierzulande so drastisch?

Ja, denn es gibt so etwas wie Investitions- und Innovationszyklen. Es werden gerade weltweit wesentliche Investitionen in den Aufbau neuer Industrien getätigt – verbunden mit Standortentscheidungen. Wenn die getätigt sind, bilden sich neue Wertschöpfungsketten. Und die sind dann erst mal fest. Die nächsten zwei bis drei Jahre sind darum extrem wichtig. Sonst geht in Deutschland industrielle Wertschöpfung verloren, die so schnell nicht zurückkommt.

Es werden bereits viele Vorhaben zur Energiewende umgesetzt. Das alles reicht noch nicht?

Es gibt eine gewisse Asynchronität: Wir wollen die gesamte Industrie sehr rasch dekarbonisieren – was zum Schutz des Klimas richtig ist. Die Energiewende ist aber nicht schnell genug vorangebracht worden, um bereits jetzt wettbewerbsfähige Preise bereitzustellen. Wir sind aus vielen Energiequellen ausgestiegen. Eine Dekarbonisierung ohne Deindustrialisierung ist kaum noch möglich. Wir sehen bereits, dass viele Investitionen ins Ausland abwandern. 

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Wie kann der Wandel gerade in der Industrie gelingen, die auch für Bremen eine Rolle spielt? Hier kocht der Stahl von Arcelor, hier sausen die Autos von Mercedes vom Band. Haben Sie eine Antwort?

Das ist die entscheidende Frage. Die deutsche Automobilindustrie steht vor großen Veränderungen, weil das Aus des Verbrenners im Grunde beschlossene Sache ist. Natürlich ist ein Standort zunächst davon abhängig, was aus Berlin und Brüssel kommt. Die Chance für Bremen und Bremerhaven liegt darin, die strukturellen Transformationsprozesse nicht aufzuhalten, sondern politisch zu unterstützen. Aus meiner Sicht hängt davon ab, ob eine Region in Zukunft erfolgreich ist oder verliert. Der Unterschied liegt in der Geschwindigkeit, mit der man den Strukturwandel betreibt, für den es neue Qualifikationen und Infrastrukturen braucht.

Die Windkraftindustrie in Bremerhaven geriet in Turbulenzen – die Hersteller haben sich von dort verabschiedet. Die Hoffnungen im Nordwesten sind nun wieder groß, an der Energiewende wichtigen Anteil zu haben. Sehen Sie das?

Ja, absolut. In der Vergangenheit hat es immer einen Zusammenhang zwischen der Ansiedlung von Industrie und der Verfügbarkeit von Energie gegeben. Wenn wir jetzt in ein neues energiewirtschaftliches Zeitalter übergehen, dann verbindet sich damit die Chance einer Reindustrialisierung. Das fällt aber nicht vom Himmel, sondern erfordert eine zielgerichtete Ansiedlungspolitik. Bremen steht als Hafenstandort für die offene und international vernetzte Wirtschaft. Das ist für die Industrie wichtig. Wir werden außerdem Energieimporte über die Häfen benötigen – etwa günstigen Wasserstoff.

In einem Papier mit Kollegen bringen Sie einen „grünen Klimakapitalismus“ ins Spiel. Was genau meinen Sie damit?

Der Staat versucht gerade, den Haushalten und Unternehmen über sehr starke Eingriffe vorzuschreiben, wie wir CO2 einsparen: über bestimmte Heizungen oder die Gebäudesanierung. Das führt zu einer enormen Kostenbelastung. Das Klimaproblem werden wir mit einer solchen Kleinteiligkeit aber nicht lösen. Es braucht Instrumente, die den Markt aktivieren. Der Inflation Reduction Act in den USA bekommt das gut hin: Er unterstützt klimafreundliche Technologien und löst damit eine Investitions- und Innovationswelle aus. Genau einen solchen Ansatz brauchen wir.

Welches Instrument schlagen Sie vor?

Über den Emissionshandel haben wir bereits einen sehr wirksamen Preis für den Ausstoß von CO2. Im Moment beschränkt er sich auf die Industrie und Energie. Ich halte eine Ausweitung auf die Gebäude und den Verkehr für notwendig. Diese beiden Sektoren verursachen noch sehr viel CO2, und wir sehen kaum Erfolge bei der Reduktion der Emissionen. Politisch macht man das derzeit nicht.

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Denn damit wird das Leben für die Menschen sofort noch teurer.

Genau. Ich habe sofort ein soziales Problem. Die Rechnung der Politik geht an der Stelle aber nicht auf. Am Ende wird es viel teurer, wenn wir zu wenig unternehmen. Mein Vorschlag wäre darum, die Einnahmen aus dem Emissionshandel an die Haushalte zurückzuverteilen. Das stärkt zugleich auf elegante Art die soziale Komponente beim Klimaschutz. Es werden nur diejenigen mehr zahlen, die besonders viel CO2 ausstoßen. Typischerweise sind das die reicheren Haushalte. Das Instrument ist gut untersucht, aber die Politik zögert noch, es umzusetzen.

Weil den Bürgern ohnehin schon einiges zugemutet wurde? SPD, Grüne und FDP sind als Zukunftskoalition angetreten. Es sind viele Dinge angestoßen worden. Es hat aber gerade bei der Energiepolitik Stolperer gegeben.

Ja. Und die Gelder sind außerdem aufgrund der angespannteren Lage im Haushalt schon wieder verplant. Eigentlich wollte man massiv investieren in die Energiewende, den Ausbau der Netze und die Sanierung der Gebäude. Die Akzeptanz für den Klimaschutz in der Bevölkerung scheint mir deutlich geringer als noch vor einem halben Jahr. Die Belastungsgrenze für viele ist erreicht. Wir sehen, dass die politischen Folgen sehr problematisch sind, wenn man an die Umfragewerte der AfD denkt.

Andere Länder stehen derzeit mit ihrer Wirtschaftsleistung besser da. Für manche ist Deutschland wieder der „kranke Mann Europas“. Finden Sie das Bild treffend?

Ja, ich finde es schon treffend. Es ist zwar noch nicht alles katastrophal schlecht, aber wir haben mindestens fünfzehn Jahre keine strukturell wirkende Wirtschaftspolitik gemacht. Wir haben doch sehr stark von der Substanz gelebt. In den vergangenen Jahren hat die Politik versucht, die Probleme mit dem Wumms zu lösen – also mit viel Geld. Das war in der Pandemie völlig richtig. Jetzt kommt es aber doch auf einen Ruck an: Wir brauchen Strukturreformen. Wenn die sofort einsetzen, ist es nach wie vor nicht schlecht gestellt um den Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland. Wenn wir allerdings jetzt weiterhin zu wenig tun, dann fürchte ich einen signifikanten Wohlstandsverlust.

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Wie können Herausforderungen wie die Energiewende denn zusammen gestemmt werden? Wie können die Menschen im Land mitgenommen werden?

Wenn ich den Haushalten und Unternehmen über Gebote und Verbote sage, was genau jetzt richtig ist, ist das aus meiner Sicht ein falscher Ansatz. Das unterdrückt eigentlich die Freude an der eigenen Gestaltung des Wandels. Und die Transformation lässt sich nicht politisch durchplanen, wir haben es mit komplexen Prozessen zu tun. Wenn die Politik sich anmaßt, alles zu wissen, dann kann sie nur scheitern. Wenn wir ein bisschen mehr Zwang rausnehmen, kann das helfen, die Gesellschaft wieder mitzunehmen.

Das Gespräch führte Lisa Schröder.

Zur Person

Henning Vöpel

ist Vorstand der Stiftung Ordnungspolitik und Direktor des Centrums für Europäische Politik (CEP) in Berlin. Zuvor war der Volkswirt viele Jahre an der Spitze des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI).

Zur Sache

Diskussion in der Bremer Handelskammer

An diesem Mittwoch geht es im Schütting um die Zukunft der Industrie in Zeiten der Krisen. Hennig Vöpel hält dabei einen Impulsvortrag. Im Anschluss gibt es eine Gesprächsrunde unter anderem mit dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm. Organisiert wird die Veranstaltung von der Handelskammer Bremen und den Unternehmensverbänden im Lande Bremen.

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