2050 werden in Deutschland nur noch 69 bis 74 Millionen Menschen leben – so prognostizierte es das Statistische Bundesamt im Jahr 2006. Seitdem sorgen sich viele junge Menschen um ihre Rente und Unternehmen um ausreichend Arbeitskräfte. Tatsächlich sank die Bevölkerungszahl zwischen 2002 und 2010 von 82,5 auf 81,8 Millionen. Die Korrektur infolge des Zensus 2011 ließ dann noch einmal 1,5 Millionen aus der Statistik verschwinden.
Doch in allen anderen Jahren seit der Wiedervereinigung mehrte sich die Bevölkerung: Mitte 2022 lebten erstmals mehr als 84 Millionen Menschen in Deutschland. In seiner jüngsten Prognose, der „15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung“, hält das Statistische Bundesamt 94,4 Millionen im Jahr 2070 für möglich und immerhin 82,6 Millionen für wahrscheinlich.
Zustande kommen diese Vorhersagen, indem Demografinnen und Demografen die Trends für Geburtenrate, Todesfälle und Zu- bzw. Abwanderung kombinieren. Lange Zeit ging das recht gut, wie Heinz Rothgang, Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am Socium, dem Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen, erklärt: „Seit 1970 betrug die Zahl der Kinder pro Frau etwa 1,4. Die Lebenserwartung stieg kontinuierlich leicht an. Und die Ausschläge bei den Migrationssalden waren seit Ende der 1990er-Jahre bis 2015 begrenzt.“ Doch jetzt hat sich die Situation bei allen drei Faktoren verändert.
Steigende Geburtenraten
Die Geburtenrate liegt aktuell bei etwa 1,55. Ursächlich dafür könnten familienfreundlichere Rahmenbedingungen sein. Immerhin erzielte Schweden infolge einer aktiven Familienpolitik 2020 eine Quote von 1,66 und Frankreich kam sogar auf 1,83. „Frankreich ist sehr pronatalistisch (das Wachstum der Bevölkerung fördernd, Anm. d. Red.) und macht eine entsprechende Politik“, erläutert Rothgang, „das zeigt, dass politisch einiges geht und dies auch Folgen haben kann.“
Deutschland sei diesbezüglich jedoch aus historischen Gründen politisch zurückhaltender. Allerdings kann man ein Familiengesetz auch nicht einfach in Geburten umrechnen. Überhaupt ist es zu früh, um zu bewerten, wie sehr der Anstieg in Deutschland familienpolitisch bedingt ist. Wahrscheinlich ist, dass auch die Migration eine Rolle spielt: „Migrantinnen haben häufig ein anderes Geburtsverhalten, das sich erst nach einer Generation weitgehend anpasst“, berichtet der Sozialforscher.
Unsichere Entwicklung der Lebenserwartung
Schwierig geworden sind auch Prognosen der Mortalität. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit ist hierzulande so niedrig, dass kaum Verbesserungen möglich sind. Was steigt, ist unter anderem dank besserer Gesundheitsversorgung vor allem die Lebenserwartung der 60-Jährigen. „Nach Jahren des Anstiegs gab es aber kürzlich erstmalig Einbrüche“, sagt Rothgang. „Covid mit mehr als 160.000 Toten merkt man schon.“
Vielleicht sei aber auch einfach das Ende des ewigen Anstiegs der Lebenserwartung langsam erreicht. Einige Fachleute aus Zellbiologie und Medizin würden dem jedoch widersprechen: Sie halten das Altern für eine Krankheit, die in wenigen Jahrzehnten heilbar sein werde. Derzeit fließen Milliarden Euro in die entsprechende Forschung. Sollte sich die Annahme bewahrheiten, würde das jede Bevölkerungsprognose sprengen.
Unkalkulierbare Migration
Als „Albtraum für Demografen“ bezeichnet Rothgang die Migration. „Früher wurde sie durch Konjunkturzyklen getriggert, Migration und Konjunktur haben gut übereingestimmt“, erinnert sich der Wissenschaftler. Er rechne damit, dass die Politik in Zukunft wieder gezielt Arbeitsmigration betreiben werde. Nicht kalkulierbar ist jedoch die Flüchtlingsmigration. 2015 kam mehr als eine Million Menschen aus unterschiedlichen Krisenländern nach Deutschland, 2022 waren es rund eine Million Menschen, die vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine zu uns flohen. Noch größer könnten in kommenden Jahrzehnten die Zahlen der Klimaflüchtlinge ausfallen. „In welchem Umfang wir die in das Land lassen, ist für Demografen vollkommen unvorhersehbar“, findet Rothgang.
Die hohen Unsicherheiten einer Prognose über fünf Jahrzehnte sind wenig überraschend. Aber wie realistisch sind die zugrunde liegenden Annahmen des mittleren Szenarios des Statistischen Bundesamtes? 1,55 Geburten je Frau im Jahr 2070, eine Lebenserwartung von Jungen bei 84,6 Jahren und von Mädchen bei 88,2 Jahren sowie ein Migrationssaldo von 250.000 stehen dort. Schon eine Familienpolitik wie in Frankreich oder ein Durchbruch in der Krebstherapie könnten ganz andere Zahlen bewirken.
Die wachsende Bevölkerung altert ebenfalls
Vom Rentensystem über Arbeitskräfte bis zu Pflege- oder Kitaplätzen reicht das Themenspektrum, bei dem die Bevölkerungsentwicklung relevant ist, und bei Wohn- und Energiebedarf endet es längst nicht. Vielleicht aber ist wichtiger als die absolute Zahl, was alle Prognosen gemeinsam haben: „Alle Varianten zeigen eine alternde Bevölkerung, Probleme auf dem Arbeitsmarkt und Versorgungsbedarf bei Älteren und Jüngeren“, resümiert der Sozialforscher.
Eine steigende Geburtenrate erhöhe den Bedarf an Kitaplätzen nach zwei bis drei Jahren und erfordere schnelle Reaktionen. „Da sind wir chronisch schlecht.“ Beim Arbeitsmarkt hingegen bleibt mehr Zeit, wenn sich die Geburtenrate ändert, aber Migration wirkt dort sofort. „Und die Pflegebedürftigen in 20 Jahren, die kennen wir alle.“ Bei allen Unwägbarkeiten ist für Rothgang daher zumindest eins sicher: „Viele Probleme der Altersstruktur kennen wir schon und können jetzt schon handeln.“