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Essay Das Recht auf ein sorgenfreies Leben

Die Zeiten sind schwer, herausfordernd und beängstigend, aber das ist nicht verboten – und es ist keine Besonderheit der jüngsten Vergangenheit. Im Gegenteil. Ein Essay.
05.11.2023, 08:16 Uhr
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Das Recht auf ein sorgenfreies Leben
Von Silke Hellwig

Die Zeiten sind selbst für Berufs- und Zweckoptimisten herausfordernd. Der Krieg gegen die Ukraine, der Krieg im Nahen ... auf eine auch nur halbwegs erschöpfende Aufzählung soll an dieser Stelle verzichtet werden. Anlass zum Trübsalblasen gibt es genug, nicht nur im Großen und Ganzen, sondern oft auch im Kleinen und Privaten. Das ist aber keine Besonderheit der jüngsten Vergangenheit. Im Gegenteil: Trotz globaler Krisen müssten sich die meisten Westeuropäer fortwährend ihres Lebens freuen. Wer im Geschichtsbuch nur einige Jahrzehnte zurückblättert, muss feststellen, dass eigene Vorfahren häufig allen Grund zum Klagen hatten.

Desinteresse am Weltgeschehen und Geschichtsvergessenheit tragen dazu bei, das eigene Leben und sich selbst zum Nabel der Welt und zum Gradmesser für Befindlichkeiten und Einschätzungen zu machen. Niemand sagt, dass die Zeiten rosig sind, aber die Frage ist, wie man überhaupt auf die Idee kommt, das für sich zu beanspruchen. In welchem Artikel der Verfassung ist festgeschrieben, dass man als Bürger der Bundesrepublik Deutschland relativ glatt und sorgenfrei durchs Leben kommt und sich – mit etwas Mühe in der Schule, Ausbildung und Betrieb – ein gutes Leben leisten kann?

Gabriela Herpell stellte vor zwei Jahren in der „Zeit“ fest: „Der Mai war scheißkalt. Ich habe oft darüber gejammert, obwohl ich ein Dach über dem Kopf habe, Geld für Heizung und warme Klamotten. Corona nervt, ich habe auch darüber oft gejammert, obwohl ich mich bisher nicht angesteckt habe (...) Was ich damit sagen möchte: Es geht mir gut, ich jammere trotzdem. Ich wünsche mir Gesundheit, Geborgenheit, ein Auskommen und geöffnete Kneipen. Ich bin genervt, wenn was nicht super läuft, aber nicht besonders dankbar, wenn es super läuft. Ich gehe irgendwie davon aus, dass mir ein gutes Leben zusteht. Dass ich es verdient habe.“ 

Ansprüche wuchern wie Unkraut

Damit ist sie nicht alleine, und das liegt nicht nur, aber wohl auch am Elternhaus, dem privaten und dem politischen. Der Nachwuchs soll es mal besser haben als man selbst, als Projekt der Eltern und der Bundesregierung. Letztere bemüht sich verzweifelt, ein allgemeines Wohlstandsversprechen einzulösen. Entsprechend nimmt die Zahl der Programme zu, die Bürger bei der Selbstverwirklichung behilflich sind – von der „Herdprämie“ bis zur Unternehmensgründung, von Entlastungspaketen bis zum Umweltbonus. Die Ansprüche an den Staat sind wie Unkraut gewuchert, alle Parteien scheuen sich, sie zurückzustutzen. Sie einzuhegen, fällt ihnen schon schwer, Wähler umgarnt man so nicht.

„Zumindest in Westdeutschland hat sich eine ganze Generation nichts erkämpfen müssen. Dadurch ist das Bewusstsein verloren gegangen, dass Wohlstand nicht selbstverständlich ist. Fehlt einem dieses Bewusstsein, neigt man dazu, auf hohem Niveau zu jammern“, sagte der Soziologe Harald Welzer in einem Interview mit einem Fachportal der Chemiebranche. 

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Zurück zu Gabriela Herpell. Sie weiß zu relativieren. Ihr Text dreht sich um Privilegien und Ungerechtigkeiten, um das Glück, hier zu leben und nicht anderswo. Das ist gewiss auch vielen anderen Bürgerinnen und Bürgern bewusst, angesichts der menschlichen Tragödien aller Tage und in aller Welt. Aber wenn Katastrophen einen durch den Fernseher oder das Smartphone in der muckeligen Wohnung oder dem schattigen Plätzchen im Biergarten erreichen, bleiben sie fern und unwirklich. Man kann sich über Massengräber in der Ukraine informieren und anschließend ein Alster bestellen. Man schaltet aus, schaltet ab, nicht nur technisch, ein Selbstschutzmechanismus. 

Viele Bundesbürgerinnen und -bürger fühlen sich überfordert. Das geht aus einer „tiefenpsychologischen Studie“ und repräsentativen Befragung des Rheingold-Instituts hervor, das im Auftrag der „Identity Foundation“, einer gemeinnützigen Stiftung für Philosophie, tätig geworden ist. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben an, sich mehr zurückzuziehen und ihre Ruhe haben zu wollen. Weiter heißt es in der im Sommer veröffentlichten Auswertung: Zwischen großem privaten Optimismus (87 Prozent) und beinahe genau so großem politischen Pessimismus (77 Prozent) blickten 55 Prozent (eher) zuversichtlich in die Zukunft.

Der Wunsch nach Rückzug von der unwirtlichen Welt in den eigenen kleinen, überschaubaren Kosmos gilt Zukunftsforschern als sogenannter Megatrend. „Social Cocooning“ nennt sich das, soziales Verpuppen. Laut dem Frankfurter Zukunftsinstitut kann „Social Cocooning als eine Antwort, eine Reaktion auf diese sich im Wandel befindende politische und ökonomische Weltsituation betrachtet werden“. Es sei „die Sehnsucht nach (...) all jenen Zusammenschlüssen, die Halt geben, Gehör schenken, Verbindung ermöglichen“, so das Institut.

Ist das das gute Leben? Es sich zu Hause gemütlich machen, sich mit Freunden treffen, die Wohnung ansehnlich eingerichtet und gut ausgestattet, der Kühl- und der Vorratsschrank prall gefüllt? Das ist mehr als viele andere haben, aber den meisten wird es nicht reichen. Sicherheit, Freiheit und Freizeit spielen eine große Rolle für die individuelle Zufriedenheit, die Chance, nach seiner Fasson selig werden zu können. Aber auch sich etwas leisten oder „gönnen können“, gilt als Merkmal von Lebensqualität.

Besser als Ludwig XIV.

Unterm Strich leben Westeuropäer wie die Maden im Speck. Harald Welzer führt in erwähntem Gespräch aus: „Wir müssen einen Bruchteil der damals nötigen Arbeitszeit aufwenden, um das Geld für ein Brötchen oder einen Fernseher zu verdienen. Aber Unzufriedenheit bemisst sich in Relation (...) Ein heutiger Durchschnittsverdiener in der Bundesrepublik hat einen in jeder Hinsicht höheren Lebensstandard als Ludwig XIV. Aber die Referenz für Wohlbefinden ist heute und morgen, nicht gestern.“

Das Gestern in Deutschland präsent haben beispielsweise die (wenigen) Mitbürger, die den „Hungerwinter“ 1946/1947 erlebt haben. Deutschlandweit erfrieren oder verhungern in diesem Winter nach Einschätzung von Fachleuten mehrere Hunderttausend Menschen. Kohle- und Lebensmitteltransporte werden geplündert, der Schwarzmarkt blüht, Frauen prostituieren sich. „Alle moralischen Hemmungen fallen – Not bricht Eisen!“, heißt es Ende Januar 1947 in dieser Zeitung. Der „Spiegel“ ließ 2017 mehrere Zeitzeugen zu Wort kommen. Wie konnten sie den „Hungerwinter“ überleben? „Die fünf Zeitzeugen sind sich einig: ,Es war pures Glück. Und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Schlechter konnte es nicht werden‘, sagt Wilhelm Simonsohn, mit 97 Jahren der älteste.“

Heute kann es hierzulande besser werden – nach oben gibt es meist kein Maß. Vor allem aber kann sich die Lage deutlich verschlechtern. Ein vielstimmiger Chor aus Unken, beispielsweise aus der AfD, prophezeit das beinahe täglich – nicht ohne Folgen. Mehr als die Hälfte der Befragten stimmt in der eingangs erwähnten Befragung der Aussage zu: „Wenn ich die Entwicklung der Politik und gesellschaftlichen Stimmungen in Deutschland so betrachte, würde ich am liebsten auswandern.“

Wohin? Wo liegt das Land, wo Milch und Honig fließen beziehungsweise in dem die Nachrichten aus der Ukraine, aus Israel und dem Gazastreifen an Schrecken verlieren und das nicht in globale Prozesse und Krisen verstrickt ist? Wenn es eine solche Insel geben sollte, ist sie vermutlich in Privatbesitz. Nicht erst die beliebte RTL-Dokusoap „Goodbye Deutschland! Die Auswanderer“ hat gezeigt, wie die Flucht vor deutschen Sorgen, Problemen und Regenwolken oft endet: mit ähnlichen Sorgen und Problemen unter Palmen. Bösartig ausgedrückt: In Deutschland lässt es sich vergleichsweise komfortabel am Weltgeschehen leiden. 

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