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Ethische Grundsätze Ist Gewissen Luxus?

Warum uns ethische Grundsätze in Krisenzeiten nicht nur lieb, sondern auch teuer sein sollten. Ein Essay.
27.11.2022, 07:01 Uhr
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Ist Gewissen Luxus?
Von Monika Felsing

Es beißt uns, quält uns, raubt uns den Schlaf: Das Gewissen ist ein Sadist – aber auch eine Superheldin, die die Menschheit vor sich selbst retten kann. Weltreligionen sind darauf gegründet, samt Himmel, Hölle und Wiedergeburt. In der Literatur füllt das Gewissen Bände. Die Werbeindustrie verdient sich eine goldene Nase daran. An der Börse und in der Politik aber kommt es Strategen ungelegen. Und so wird, wann immer die Ethik sich Sachzwängen beugen soll, als Erstes das Gewissen zum Luxus erklärt. Zu einer Errungenschaft für Zeiten ohne Hungersnöte und Krieg, ohne Atomkraft, Arbeitslosigkeit und Artensterben, ohne Wirtschaftskrise und Klimawandel. Wer noch ein Gewissen hat, weiß schon gar nicht mehr, wohin damit. Aber ist es deshalb Luxus?

Nicht im Sinne von überflüssig. Gewissenlos wollen selbst die nicht erscheinen, die täglich über Leichen gehen. Und sogar Xi und Putin, der Militärjunta in Myanmar, den afghanischen Taliban und den Mullahs im Iran dürfte klar sein: Selbst wenn Menschen unterdrückt werden und ihre Meinung nicht frei äußern dürfen, hat jeder halbwegs Erwachsene, statistisch gesehen, mindestens ein Gewissen. Das gute, das in unseren selbstgerechten Momenten ganz ohne Zweifel auskommt. Und das schlechte, das auf Dauer den Falschen nutzt. Nur für ein Baby wäre ein Gewissen wirklich Luxus. Auch Kleinkinder brauchen keine Skrupel. Man kann ohne Gewissen leben, solange man nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheidet. Neandertaler und Cum-Ex-Banker sind der Beweis.

Frei wie das Mandat

Als Quelle unseres Selbstwertgefühls ist das Gewissen so frei wie das Mandat im Bundestag. Nach der Geschäftsordnung sollen Bundestagsabgeordnete „bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen“ allein ihrer Überzeugung und ihrem Gewissen folgen. So ist es auch im Grundgesetzartikel 38 verbürgt. So viel zur Theorie. Um die Position ihrer Partei nicht zu schwächen und um ihren eigenen Listenplatz nicht zu riskieren, unterwerfen sich Abgeordnete der Fraktionsdisziplin. Und dieser Zwang, den es gar nicht geben darf, wird nur ausnahmsweise aufgehoben. Etwa bei der Entscheidung über die Hauptstadt, über die Verjährung von NS-Verbrechen und über die „Ehe für alle“. Von Gewissensabstimmung ist dann die Rede. Als schliefe es an allen anderen Tagen in Berlin.

Die moderne Naturwissenschaft war bis 1945 ethikfreie Zone. Erst nach Hiroshima und Nagasaki entdeckten Grundlagenforscher ihr Gewissen. Als Kanzler Konrad Adenauer (CDU) die Bundeswehr mit Nuklearwaffen ausstatten wollte, distanzierten sich Physiknobelpreisträger Max Born und 17 weitere deutsche Professoren in ihrer „Göttinger Erklärung“ von atomarer Aufrüstung. Mitten im Kalten Krieg.

Politische Beobachter verstanden die Welt nicht mehr. Wie sich eine “einzige beträchtliche Gruppe erstklassiger Naturwissenschaftler“ im Westen den Luxus leisten könne, ausschließlich friedliche Anwendungen der Atomenergie zu verfolgen und ohne Regierungsdruck zu arbeiten, wollte eine US-Zeitschrift von Hedwig Born wissen. Die jüdischstämmige Quäkerin und ihr Mann antworteten darauf in dem Buch "Der Luxus des Gewissens. Erlebnisse und Einsichten im Atomzeitalter", einigermaßen befremdet davon, dass „im ,christlichen’ Westen ein Akt des Gewissens als ,Luxus’ angesehen“ wurde, wenn nicht sogar verdächtig schien.

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Muss man sich ein Gewissen leisten können? Sollte man meinen. Fair gehandelte, ökologische Kleidung und Lebensmittel können nicht so billig sein wie unter zweifelhaften Bedingungen hergestellte Waren aus Massenproduktion. Die eigentliche Frage aber ist, wie viel wir wirklich brauchen und ob wir und kommende Generationen mit den Konsequenzen unseres Handelns leben können. Ob wir noch in den Spiegel sehen können, den wir Gewissen nennen.

Es sind ohnehin nicht die Armen, die der Welt am meisten Schaden zufügen. Weder als Staat noch als Konzern noch als Individuum. Je reicher, desto länger ist die Spur der Vernichtung und des Mülls, die wir hinter uns herziehen. Daran ändern auch Gewissensprothesen wie Klima-Zertifikate oder andere Produkte des modernen Ablasshandels nichts.

Wer die Begriffe „Gewissen“ und „Luxus“ gemeinsam googelt, betritt eine andere Welt. Es ist die Welt der Luxusautos, der Luxusuhren, der Luxuskleidung, der Luxusappartements, der Luxusreisen und der Luxushotels, die Welt der Milliardäre und der Multimillionärinnen, der Erbinnen und Zocker, der Selbstdarsteller und Influencerinnen – eine Welt,  in der Ethik als „Luxus-Investment-Megatrend“ gefeiert wird. Ob Stiftung oder Spende: Wer ein Gewissen zur Schau stellen kann, hat es schon immer getan. Wen interessiert es, wie viel von dem Geld, das ein Unternehmer wie Klaus-Michael Kühne in Hamburg nach Feudalherrenart verteilt, eigentlich in den Steuertopf und damit ohnehin der Allgemeinheit gehört? Es sind Almosen, die nicht wehtun und trotzdem adeln sollen.

Und damit wären wir bei der sozialen Frage, dem Stiefkind aller Gewissensfragen. Auf der Internetsuche mit „Armut“ und „Gewissen“ landen wir nicht etwa bei Georg Büchners Kampfruf „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“, sondern bei „13 Tipps zum Umgang mit bettelnden Menschen“, einem Ratgeber der Caritas. In solchen Momenten fehlen Sozialpolitikerinnen wie Hilde Adolf (1953-2002) und Regine Hildebrandt (1941-2001). Die beiden hätten Klartext geredet, hätten sie miterlebt, dass Armut, aber auch Reichtum in Deutschland so stark zunimmt wie in diesen Krisenzeiten.

In einem Interview hat Regine Hildebrandt, das „Gewissen der SPD“, im Jahr 1991 betont: „Wenigstens die Gerechtigkeit muss bleiben, es muss jeder seine Perspektive haben, und es darf nicht so viele Verlierer geben.“ Für ihre Familie war es kein Luxus, sich selbst treu zu sein. Ihr Mann war in der DDR verurteilt worden, weil er als Kriegsdienstverweigerer nicht am Bau militärischer Anlagen mitwirken wollte, und ihre Kinder ließen die beiden nicht am eigentlich verbindlichen Wehrkundeunterricht teilnehmen.

Unberechenbar

Für die Militärs dieser Welt ist das Gewissen ein unberechenbarer Gegner. Schwer abzusehen, wann es sich bemerkbar machen wird und wie sich das auf die Moral der Truppe auswirkt. Deserteure der Wehrmacht und Kriegsdienstverweigerer wurden lange Zeit in Deutschland als Drückeberger und Verräter diffamiert, obwohl in Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit gleichermaßen garantiert sind und niemand zum Dienst an der Waffe gezwungen werden darf.

Gewissen sei Luxus, bleibt eine Schutzbehauptung. Ein Freibrief für alle, die wegsehen oder bewusst etwas tun, das ihren ethischen Grundsätzen widerspricht. Wer jemals eine Gewissensentscheidung öffentlich gemacht habe, schrieb Hedwig Born, habe immer zu Anfang die Mehrheit gegen sich gehabt, und man habe versucht, diese Menschen „als Eindringlinge, als unkritische, unrealistische und unpolitische Staatsbürger abzutun, die nicht ernst genommen werden  müssen”.

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Die Verfolgte des Naziregimes und Atomwaffengegnerin appellierte 1969 an ihre Leserschaft: „Es hängt von uns ab, von jedem einzelnen Staatsbürger in allen Ländern der Erde, dass dem herrschenden Unsinn ein Ende gemacht wird. Wir alle müssen kämpfen gegen offizielle Lügen und Übergriffe.“ Gegen die Behauptung, es gebe einen Schutz gegen Kernwaffen. Gegen engherzigen Nationalismus  und „vor allem gegen die Ideologien, die Unfehlbarkeit ihrer Lehre beanspruchen und die Welt in unversöhnliche Lager trennen“.

Alle Menschen seien frei und gleich an Würde und Rechten geboren, verheißt Artikel 1 der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen. Und: „Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt.“  Dass die Menschheit aus diesen beiden Talenten nicht sonderlich viel gemacht hat, ist der eigentliche Luxus. Ein Luxus, den wir uns nicht länger erlauben können. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, unsere Probleme  zu lösen, können wir uns auch das schlechte Gewissen schenken. Und jede Form von Selbstmitleid.

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