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Die Meister der Besorgnis Warum sich zu viele Menschen zu viele Sorgen machen

Wenn mehrere Krisen aufeinandertreffen, löst das bei vielen Menschen Sorgen aus. Vorsorge zu treffen, kann nicht schaden, aber zu viele Gedanken über die Zukunft. Man kann sie nicht bestimmmen. Ein Essay.
06.11.2022, 14:42 Uhr
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Warum sich zu viele Menschen zu viele Sorgen machen
Von Silke Hellwig

Sie sind da, auch wenn sie sich nicht zeigen. Die Menschen flanieren vergnügt in der Stadt, sitzen und plaudern im Café. Sie verreisen und schmieden Pläne. Aber man ahnt – und Umfragen deuten es an: Mehr und mehr Menschen werden von mehr und mehr Sorgen geplagt. Dazu gehören generelle Dauerkümmernissen: Geht es den Kindern/Eltern gut? Wird der Verwandte schnell wieder gesund? Komme ich gut von A nach B? Werde ich noch geliebt? Und von akuten Sorgen: Reicht das Geld? Reicht das Gas? Komme ich gut durch den Winter? Weitet sich der Krieg aus? Stecke ich mich mit dem Virus an? Wann werden uns die Auswirkungen des Klimawandels mit welcher Wucht treffen?

Sich sorgen zu können und damit abzuschätzen, was auf uns zukommt, ist an sich ein Vorteil. Die Vorsorge ist ein Zwilling der Sorge, der Versuch, sich für das zu wappnen, was da kommen mag. Zum Sorgenmachen heißt es daher auch im Online-Magazin „Zett“: „Den schlechten Ruf hat es nicht verdient. Eine Person, die sich um etwas oder jemanden sorgt, denkt mit und denkt vor. Sie könnte ihre Sorgen als Taktik einsetzen, um sich auf mögliche zukünftige Ereignisse einzustellen und vorzubereiten. Sorgende neigen dazu, erfolgreicher Probleme zu lösen, in Beruf und Schule leistungsstärker zu sein und stressige Ereignisse informierter und proaktiver bewältigen zu können.“

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Erfolgreicher, leistungsstärker und „proaktiver“ – schön und gut, aber Sorgen sind ein denkbar unangenehmer Antrieb. Zumal wenn sie einer Grundlage entbehren und sich im Konjunktiv bilden. Was wäre, wenn mein Kind später Drogen nimmt? Wie ginge es weiter, wenn mein Partner eine andere kennenlernt? Was passierte, wenn ich den Ansprüchen nicht genüge, wenn ich nicht schaffe, was ich schaffen muss? „Angst essen Seele auf“ lautet treffend der Titel eines Sozialdramas des Regisseurs Rainer Werner Fassbinder. Es endet mit einer Selbsttötung.

In Watte gepackt

Nicht nur von 12 Uhr bis Mittag zu denken, sicherte dem Homo sapiens das Überleben. Vor Jahrtausenden war er ständig existenziellen Bedrohungen ausgesetzt: Naturgewalten, wilden Tieren, verfeindeten Mitmenschen, Nahrungsmangel. Dagegen ist der Europäer im Jahr 2022 nicht nur in Watte, sondern obendrein in Samt und Seide gepackt. Das größte Risiko für sein Leben geht von ihm selbst aus. Er stirbt auf der Autobahn oder fällt von der Leiter. Er betreibt eine Risikosportart oder ernährt sich ungesund.

Dennoch wird die Bevölkerung immer ängstlicher, Bürger sorgen und grämen sich als könnte man darin Meister werden. Verlustängste spielen eine große Rolle. Je mehr man hat, desto mehr hat man zu verlieren, und das ist nicht nur Hab und Gut. Auch Familie und Freunde, Freiheiten und Rechte, Arbeitsplatz oder Aufgabe, Ansehen, Stolz und der gute Ruf können abhandenkommen.

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„Noch nie zuvor hatten so viele Menschen so viel zu verlieren wie heute: ihre Sicherheit, ihren Wohlstand, ihre Zukunftschancen. Wir gehen zu Vorsorgeuntersuchungen, die möglichst früh Gefahren entdecken sollen, von denen wir noch gar nichts ahnen. Wir hören Experten zu, die uns auf Risiken aufmerksam machen, an die wir normalerweise nicht einmal denken. Wir sind gegen alles Mögliche versichert, vom Verlust des eigenen Hauses bis zum Verlust der Zahnprothese. Aber all das macht uns nicht fröhlich oder angstfrei, sondern führt uns überhaupt erst vor Augen, was alles passieren kann“, sagt Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer im Gespräch mit dem Magazin „Geo“.

Doch warum sind die Deutschen im internationalen Vergleich so verzagt? So gut wie jeder kennt irgendwen, an die oder den er sich in höchster Not wenden könnte. Wo dieses persönliche Netzwerk fehlt oder Lücken hat, hilft der Staat. Deutschland leistet sich eines der umfassendsten Sozialsysteme der Welt. Die Bundesregierung informiert: „Auf den Sozialstaat ist Verlass – ,auch und gerade in einer Krise‘. Mehr als ein Drittel aller in Deutschland erwirtschafteten Gelder fließen in soziale Leistungen.“ Wer in Schwierigkeiten steckt, wird zwar nicht auf Rosen gebettet, aber aufgefangen. Obendrein gibt es unzählige ehrenamtliche Initiativen und private Stiftungen, die sich kümmern und sorgen, die überbrücken und stützen, von den Kirchen bis hin zur Weihnachtshilfe dieser Zeitung (Apropos: Spendenkonto DE22 2905 0101 0001 1650 00).

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Wann und wo ist das Vertrauen in die Gemeinschaft auf der Strecke geblieben? Nicht alle Türen stehen jedem offen, aber wenn es hart auf hart kommt, ist auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung Verlass. Dass Wildfremde helfen, wenn man mit dem Auto liegen geblieben ist, den letzten Zug verpasst hat, in einen Sturm geraten ist – von solchen Erlebnissen hört man reichlich, wen man die Ohren spitzt. Würde die hochschwangere Maria heute in einem Stall niederkommen und ihr Kind in eine Futterkrippe legen müssen? Niemals.

Sicher, es gibt auch gegenteilige Erlebnisse und Schilderungen von Neppern und Schleppern, Bauernfängern und Enkeltrickbetrügern. Es gibt Verführer in den sozialen Netzwerken, die aus Mücken Elefanten machen und aus wüsten Spekulationen Wahrheiten. Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, dass sich solche Nachrichten besser einprägen. Ein gewisser Argwohn schadet sicher nicht, sofern er sich nicht zu generellem Misstrauen und Vorurteilen auswächst. Die Welt ist ganz erbärmlich schlecht, ein jeder Mensch ein Bösewicht? Ach was.

2017 veröffentlichten Klaus Boehnke, Regina Arant und Georgi Dragolov von der Jacobs University Bremen Ergebnisse ihrer Forschung zum sozialen Zusammenhalt im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Zitat aus der Zusammenfassung: „Allen öffentlichen Unkenrufen zum Trotz ist es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland gut bestellt. Auch die wachsende kulturelle Vielfalt steht dem Gemeinsinn nicht entgegen.“ Zusammenhalt sei keine Selbstverständlichkeit, sondern müsse quasi gehegt und gepflegt werden, heißt es allerdings weiter. Soziale Ungerechtigkeit weiche ihn auf – Wutwinter und Wutbürger lassen grüßen.

Zutrauen in eigene Fähigkeiten

Auch das gemeinschaftliche Selbstvertrauen ist in Deutschland offenbar unterentwickelt. Dabei geht es nicht darum, auf die Erfolge der Fußballnationalmannschaft zu verweisen oder auf weltweit erfolgreiche Luxusautomobile. Es geht um das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, auch schwere Krisen und große Herausforderungen zu meistern. Ein Land wie Deutschland, gesegnet mit Wohlstand, Strukturen, Reserven und Menschen mit Grips hat ein denkbar günstige Ausgangsposition. Man muss gedanklich nicht allzu weit in die Vergangenheit reisen, um das bewiesen zu sehen - in der Wiedervereinigung, der Aufnahme von Hunderttausenden Flüchtlingen im Jahr 2015. Die Corona-Krise wurde besser bewältigt als zunächst befürchtet. Botschafter für Stehaufmännchen sind die Menschen im Ahrtal, die innerhalb weniger Stunden zum Teil alles verloren haben, was ihnen lieb und teuer war. Nicht alle konnten ihr Leben wieder so aufnehmen, wie es einmal war. Aber niemand blieb ohne Hilfe und Zuwendung.

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Der SWR berichtet: „Die Solidarität mit den Betroffenen der Flutkatastrophe ist groß. Tausende Helferinnen und Helfer kamen aus ganz Deutschland in die Hochwassergebiete und packten beim Retten, Bergen und Aufräumen mit an. Manche von ihnen kommen bis heute. Helfer und Flutgeschädigte sind enge Freunde geworden.“ Laut einer Umfrage des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen wurden rund 655 Millionen Euro gespendet – die höchste Summe, die eine Katastrophe bislang mobilisiert hat. Man kann sich sicher sein, dass auch die ihr Herz und Portemonnaie geöffnet haben, die selbst nicht viel haben. Ist das nicht Anlass genug, zum Mutbürger zu mutieren?

Zu den vielfach zitierten Reimen aus Wilhelm Buschs „Die fromme Helene“ gehört: „Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör.“ Helene nimmt bekanntlich ein tragisches Ende. Deshalb sollte man besser eine andere Weisheit Buschs verinnerlichen: “In Ängsten findet manches statt, was sonst nicht stattgefunden hat.“ Sorgen verändern die Zukunft nicht. Sie vergällen die Gegenwart.

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