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Akustik im Großen Saal Glanz und Schatten in der Elbphilharmonie

Die Klang im Großen Saal ist beeindruckend und gleichzeitig grausam. Warum das so ist, erklärt der Geschäftsführer der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen.
12.01.2017, 21:58 Uhr
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Glanz und Schatten in der Elbphilharmonie
Von Iris Hetscher

Die Klang im Großen Saal ist beeindruckend und gleichzeitig grausam. Warum das so ist, erklärt der Geschäftsführer der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen.

Zum Schluss, natürlich, der letzte Satz aus der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit diesem Schlusschor, der die Herzen überfließen lässt. „Alle Menschen werden Brüder“ schmettern der NDR-Chor und der Chor des Bayerischen Rundfunks vereint, Dirigent Thomas Hengelbrock hebt fast ab von seinem Platz am Dirigentenpult. Schlussakkord des NDR Elbphilharmonie-Orchesters, und sofort bricht Jubel aus. Nach wenigen Minuten stehen alle 2100 Zuhörer und klatschen, klatschen, klatschen. Es darf, es soll, es muss einfach gefeiert werden: 11. Januar 2017, kurz nach 23 Uhr – die Elbphilharmonie ist eingeweiht.

Genau genommen gilt das an diesem Mittwochabend nur für das Herzstück, den Großen Saal, aber das ist auch der Raum, den eigentlich alle meinen, wenn von Hamburgs neuem Konzerthaus gesprochen wird. Gestaltet wie ein in plätschernde See geratenes Amphitheater mit seinen geschwungenen Rängen und mit Plätzen, die sich aufsteigend um die Bühne herum gruppieren. Was nicht unbedingt nur von Vorteil ist, doch dazu später mehr. Um kurz nach 23 Uhr also ist der lang anhaltende Applaus nicht nur der Lohn für die Künstler, durch ihn bricht sich auch generelle Begeisterung Bahn. Endlich, endlich wird dieses „Marathon“-Projekt, wie der Architekt Jacques Herzog in seiner Festrede sagt, seiner Bestimmung übergeben. Ab jetzt, auch das kommt in den Reden immer wieder vor, sollen Dissonanzen nur noch in der Musik vorkommen, die hier gespielt wird. Einzig der scheidende Bundespräsident Joachim Gauck weicht ein wenig von dem weihevollen Beschwörungscharakter des Festakts ab und schreibt den Behörden ins Stammbuch: „Wenn Steuergeld im Spiel ist, muss besser kalkuliert werden“. Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hat die 800 Steuer-Millionen, die in dem Haus stecken, zuvor etwas lapidar als „lehrreiche Episode“ bezeichnet. Allen Rednern ist die Erleichterung anzumerken, dass die skandalträchtige Bauzeit nun vorbei ist.

Der Klang ist beeindruckend

Nun muss die Elbphilharmonie die riesigen Erwartungen erfüllen, die in den vergangenen Monaten von allen Beteiligten ganz unhanseatisch aufgetürmt wurden. Ohne Superlativ ging da gar nichts, geredet wurde vom „perfekten Klang auf allen Plätzen“ in einem der „weltbesten Konzertsäle“. Für das Eröffnungskonzert hatte Thomas Hengelbrock, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie-Orchesters, ein Programm zusammengestellt, das die Möglichkeiten des Saals mit der viel zitierten weißen Akustikhaut und dem Klangreflektor ausloten sollte. Was gespielt werden würde, war bis kurz vor dem Konzert geheim, Hengelbrocks Wahl kann man mutig nennen, die Dramaturgie des Konzerts als vollauf gelungen. Das durch Solisten verstärkte Orchester spielt viel Zeitgenössisches (Britten, Liebermann, Zimmermann, Dutilleux, Messiaen), gemixt mit Renaissance und Barock (Praetorius, Cavalieri, Caccini), Wagner, eine Uraufführung des (ebenfalls) zeitgenössischen Komponisten Wolfgang Rihm und danach und als Zucklerli den erwähnten Schlusss-Beethoven. Musiziert und gesungen wird unten im Rund, aber auch auf den Rängen, oft mit enormer Lautstärke, attaca und tutti, mal zart und leise in kleineren Konstellationen.

Der Klang ist beeindruckend. Aber nicht immer und ganz bestimmt nicht von jedem Platz aus. Und der Klang ist grausam, weil er alles offenbart. Schönes wie Häßliches. Der Farbenreichtum von Mendelssohns „Ruy Blas“ ist in jeder einzelnen Stimme da, auch bei Brahms viertem Satz seiner Sinfonie Nr. 2 offenbart sich auf einmal, warum dieser Komponist zwischen Beethoven und der Moderne steht. Bei vielen Soli, auch des Schlagwerks, dringen leiseste Töne voll und klar in den Raum. Doch: Auch jeder Intonationspatzer des Orchesters, jede Nachlässigkeit des Dirigenten, was Dynamik und Abstimmung der Instrumentengruppen angeht, ist klar zu hören; wenn die Blechbläser zu spitz oder nicht alle zugleich einsetzen genauso wie eine zu laute Triangel oder quäkende Klarinetten. Albert Schmitt, Geschäftsführer der Deutschen Kamerphilharmonie Bremen, und ebenfalls Eröffnungskonzertbesucher, kommentiert das so: „Die Akustik ist gelungen. Das alleine ist schon nicht selbstverständlich, wie einige Beispiele von Konzertsaalneubauten der letzten dreißig Jahre belegen. Und nicht nur das, der große Saal der Elbphilharmonie klingt vornehm hanseatisch und keineswegs opulent oder gar von barocker Üppigkeit. Die fachliche Kehrseite dieser Qualität, wenn es denn eine ist, kann man knapp zusammenfassen mit: Diese Akustik verzeiht nichts. Wer hier spielt, muss seine Hausaufgaben gemacht haben.“ Für die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen ist es am 3. März soweit. Dann erklingt das erste von drei seit Monaten ausverkauften Konzerten des einzigen „Orchestra in Residenz“ der Elbphilharmonie.

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Jedes Husten und Räuspern wird im Raum verteilt

Doch zurück zum 11. Januar: Beim letzten Stück vor der Pause, dem zehnten Satz aus Olivier Messiaens „Turangalila-Sinfonie“, muss Solistin Ya-ou Xie am Flügel mächtig in die Tasten hauen, damit ihr Part zu hören ist. Dafür zeigt der unendlich scheinende Schlusston, wie viel Klangvolumen dieser Raum aufnehmen kann, er schwappt durchs Rund, ohne suppig zu sein. Hier wird Klang zur Psychologie: Man fühlt sich wie eingehüllt von der Musik, gemeinsam mit allen anderen, es ist tatsächlich der magische „Lagerfeuer-Moment“, von dem Intendant Christoph Lieben-Seutter gesprochen hat. Doch solche Mega-Geräusche sind nicht die Regel in einem Konzert. Und dann fällt auf: Wer hinter oder neben dem Orchester platziert ist, wie ungefähr die Hälfte der 2100 Zuhörer, hört nicht so gut wie die anderen. Denn das Orchester, der Chor und die meisten Solisten sind klassisch nach vorne ausgerichtet – das gleicht der Klangreflektor nicht aus. Deshalb sind die vier Gesangssolisten des Beethoven-Schlusschors, darunter der stimmgewaltige Bariton Bryn Terfel, nicht gut zu verstehen. Zuvor bei der Uraufführung des Auftragswerks „Tryptichon und Spruch in Memoriam Hans Henny Jahnn“ von Wolfgang Rihm muss man die schwerblütigen Texte schon im Programmheft mitlesen, wenn man sich dafür interessiert und bekommt zudem den Vortrag von Tenor Pavol Breslik nicht optimal mit, weil dieser mit dem Rücken zu 50 Prozent des Publikums steht. Ein Glanzstück ist die Rihmsche Hommage an den Hamburger Schriftsteller, Orgelbauer und Verleger nicht, die ersten beiden Teile wirken in ihrer eruptiven Vehemenz wenig einfallsreich, die beiden anderen klingen wie durch den Wolf gedrehte Spätromantik ohne jegliche Spannung. Gelungen dagegen sind die Ausflüge auf die Ränge, auf die Hengelbrock die Solisten schickt. Der Countertenor Philippe Jaroussky lässt seine perfekt ausgesungenen Verzierungen von hoch oben in den Raum hineinstrahlen, auch das Ensemble Praetorius sorgt für filigranen Sakralklang – wenn nicht gerade gehustet wird. Denn auch jedes Räuspern, Herumkramen in Taschen, Wispern oder Papiergeraschel wird im Raum verteilt. Das fordert auch den künftigen Besuchern einiges an Disziplin ab.

Doch solche Überlegungen spielen nach dem Eröffnungskonzert erst einmal keine Rolle für die meisten Besucher. Viele müssen noch eine ganz andere Aufgabe erledigen. Wer bisher noch kein Handy-Foto im Großen Saal gemacht hat, holt das schleunigst nach. Denn das Selfie mit Elphi dürfte in den Sozialen Netzwerken zum nächsten Renner werden.

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