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Jörg Kachelmann "Ups, heiß, da können wir auch nix machen"

Jörg Kachelmann ist Wetter-Fachmann. Im Gespräch erläutert er, was man gegen Hitze tun sollte und welcher verbreitete Irrglaube über Wetterphänomene ihn besonders ärgert.
05.08.2023, 16:37 Uhr
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Von Silke Hellwig

Herr Kachelmann, wie verlässlich kann man absehen, dass die deutschen Sommer heißer und die Winter milder werden?

Jörg Kachelmann: Der Klimawandel wird dazu führen, dass es bei uns immer wärmer wird, wenn auch die natürlichen Schwankungen erhalten bleiben. Es wird auch mal wieder einen kühlen verregneten Sommer geben, es wird nicht jedes Jahr automatisch wärmer als das Vorjahr werden. Bei der ganzen Problematik gilt es noch zu beachten, dass in weiten Teilen der Bevölkerung verloren gegangen ist, was ein normaler Sommer bedeutet – wenn es mal durchschnittlich ist, wird in manchen Ekelmedien vom „Wintereinbruch“ fabuliert wie in den letzten Tagen.

Seit einigen Sommern wird diskutiert, wie der Hitze zu begegnen ist – durch Hitzeaktionspläne, Trinkwasserbrunnen, klimaresistente Bäume. Sind das Sommerloch-Themen oder ist es höchste Eisenbahn, sich darum zu kümmern?

Es wäre 1976 höchste Eisenbahn gewesen, 1983, 2006, 2018, 2019. Dass einfach niemand irgendetwas macht, ist für mich eines der vielen Wunder in einem durchbeamteten Staat wie Deutschland. Es gibt Dörfer im Schwarzwald und anderswo ohne Mobilfunkempfang, auf den Strecken durch deutsche Mittelgebirge muss man hoffen und beten, dass nix an der falschen Stelle passiert, weil man telefonisch nicht um Hilfe bitten könnte. Abgebaute Sirenen und der nicht existente Katastrophenschutz an der Ahr sind kein Einzelfall. Deutschland ist die Inkarnation von Inschallah, dem unbedingten Glauben an eine höhere Macht, an dem an sich nichts falsch sein muss, aber bei uns ist er gepaart mit der Überzeugung, dass deshalb sowieso alles wurscht ist und man nichts tun muss. Krankenhäuser und Pflegeheime nicht kühlen, Inschallah, haben wir halt Pech mit dem Wetter. Man bejammert lieber den Klimawandel und tut so, als ob man den rückgängig machen könnte, bevor man technische Einrichtungen umsetzt, mit denen man menschenwürdige Bedingungen schafft. Aber es gehört in Deutschland inzwischen schon ethnisch bedingt zur Normalität, immer durch irgendetwas überrascht zu werden. Neuerdings auch, dass es durch den Klimawandel immer heißer wird.

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Wie kann man sich für die Zukunft rüsten?

Wenn ich in einer Kommune zuständig wäre, würde ich nach Möglichkeiten suchen, Wasser zu speichern, Zisternen und Sammelmöglichkeiten für den privaten und landwirtschaftlichen Bereich schaffen. Ich würde eine Aufklärungskampagne machen, die klarmacht, dass nur die Bürgerinnen und Bürger Waldbrände verhindern können, sonst niemand. Ich würde durchsetzen, dass kommunale Einrichtungen, vor allem die, die von älteren Menschen frequentiert werden, klimatisiert sind. Ich würde den Menschen erklären, dass Hitzetote kein gottgewolltes Schicksal sind und es zynisch ist, einerseits ökologischen Strom zu produzieren, diesen andererseits aber nicht nutzen zu dürfen, um Menschenleben zu retten. Wie menschenverachtend kann man sein, dass man Hitzetote beklagt und auch zu Recht die Problematik der Erderwärmung sieht, aber nicht technisch alles vorhält, um diese Hitzetode zu verhindern? Da ist es wieder, das deutsche Inschallah: Ups, heiß, da können wir auch nix machen, aber verhindert erst mal die Klimakrise, Boomer, ihr habt sie schließlich verbrochen. Wenn‘s euch erwischt wegen der Hitze, dann ja auch irgendwie zu Recht.

Was ist gegen große Hitze zu tun?

Das ist schon der fast barbarische Zynismus, dass Behördentipps aktive Sterbehilfe für alte Menschen leisten, indem geraten wird, dass sie in ihren meist kleinen Wohnungen tagsüber bei völliger Windstille und unatembarem CO2 und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit dem Herz-/Kreislauftod entgegensiechen sollen. Hat man das früher gemacht, als Züge und Autos noch keine Klimaanlage hatten, Fenster zu, sobald es draußen heißer war als drin? Natürlich nicht, Fenster auf, Durchzug, Ventilator vor die Nase. Das ist das Problem in bildungsfernen Schwurbelländern, in denen man ein Betrugsschema wie Homöopathie durch Krankenkassen bezahlen lässt: Dort glaubt man auch, dass Durchzug krank oder einen steifen Nacken macht.

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Was ärgert Sie am meisten, wenn es um Tipps gegen Wetterphänomene aller Art geht?

Dass Behörden mit ihren Hitzetipps Menschen buchstäblich in den Tod oder zumindest ins Elend schreiben, ist bemerkenswert. Auch der Blödsinn, dass man irgendwas in die „kühleren Abendstunden“ verlegen sollte, weil dann die „Mittagshitze“ vorbei sei, ist schwer auszuhalten. Im Hochsommer wird die Höchsttemperatur gegen 18 Uhr gemessen, auch die Ozonwerte sind am Abend am höchsten. All die Feierabendjogger an heißen Sommertagen schädigen ihre Lungen nachhaltig, bei Kindern und Jugendlichen unwiderruflich. Aber das Schwurbelland möchte lieber niemanden mehr vor den teils extremen Konzentrationen warnen, bei denen selbst Kalifornien aktiv würde. Es gilt das Inschallah-Prinzip. Wenn wir so tun, als ob es nicht da wäre, ist es auch nicht da.

In Ihrem Youtube-Format „Kachelmann am Abend“ sprechen Sie auch von anderem „völlig bescheuertem Aberglauben“. Was hält sich besonders hartnäckig?

Eine substanzielle Anzahl von Menschen und fast alle Journalistinnen und Journalisten wissen nicht – da sind wir wieder beim Physikabwählen und der Bildungsferne –, dass Wald erst ab 250 bis 300 Grad brennt, dass man mit Glasscherben, Glasflaschen, Gurkengläsern und Leergut auf dem Balkon kein Feuer machen kann. Damit es einen Waldbrand gibt, braucht es 1. Dürre und 2. Brandstiftung, bei uns reicht sehr, sehr selten ein Blitz bei wenig Regen. Die Lufttemperatur hat dabei null Bedeutung. Der Wald brennt bei 50 Grad nicht besser als bei minus zehn Grad. Auch hier greift wieder der deutsche Inschallah-Gedanke, dass vor allem in der Medienberichterstattung so getan wird, als ob Feuer einfach irgendwie „ausbrechen“. Nein. Es ist mit wenigsten Ausnahmen Brandstiftung, ob fahrlässig oder vorsätzlich, und manchmal irgendein Fahrzeug, das einen Funken macht. Aber auch das wäre nicht da, wenn es keine Menschen gäbe. Ohne diese wäre in diesem Jahr die Zahl der Waldbrände in Deutschland: null. Rhodos: null.

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Im „Spiegel“ raten Sie, bei starken Unwettern nirgendwo langzugehen, wo etwas auf einen fallen kann, und erwähnen, dass sich manche Menschen dadurch womöglich entmündigt fühlen könnten. Gehen viele Menschen unvernünftig mit speziellen Wetterlagen um?

Menschen, die es normal finden, mit Tempo 250 auf einer Autobahn zu fahren, können kein Gefühl mehr dafür entwickeln, was das eigene Menschenleben wert ist und wie groß Risiken sind, sie zu verlieren. Dieses Unverwundbarkeitsgefühl vornehmlich männlicher und nicht übermäßig kluger Menschen schlägt sich in allen Statistiken nieder, auch wenn es um Unwettertote geht.

Womöglich weil sie denken, dass der Mensch die Natur im Griff hat.

Deutschland ist die globale Zentrale für Aberglauben. Menschen glauben, dass es Eisheilige gibt, marode Lokalzeitungen berichten noch im Jahr 2023 darüber, obwohl man seit Jahrhunderten nicht sieht, dass der 11. bis 15. Mai irgendwie anders wäre als die Tage vorher oder nachher. Menschen in Hamburg glauben, dass es Gewitter interessierte, ob da irgendwo eine Elbe ist, andere glauben, dass Ebbe und Flut oder der Mond einen Einfluss auf das Wetter hätten. Man könnte die Liste beliebig erweitern: Windräder, die Dürre machen, Luftdruckveränderungen, die angeblich Beschwerden verursachen, obwohl jeden Tag ein Ausflug zum Hohen Berg bei Syke dieselben Luftdruckveränderungen, aber keine Beschwerden verursacht. Und Menschen, die Holz- und Pelletöfen toll finden, obwohl sie klimaschädlicher sind als Öl, Kohle und Gas und über den Feinstaub Menschen krank machen mit der katastrophalen Luft aus den 50ern des letzten Jahrhunderts. 

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Gibt es noch Wissenslücken in der Meteorologie?

Nicht direkt Wissenslücken, aber kleinräumige Dinge wie Nebelfelder oder einzelne Gewitter sind schwer zu modellieren. Auch da haben wir wieder mit dem Aberglauben zu tun, dass Menschen denken, dass wir morgens wüssten, ob es um 16 Uhr in Osterholz, Vegesack oder Syke gewittert, nur weil das entsprechende Symbol auf der Handy-App steht. Nein, niemand hat eine Ahnung. Es ist übrigens auch nicht so, dass die große Zahl mit der angeblich aktuellen Temperatur bei den voreingebauten Wetter-Apps irgendwas mit den Beobachtungen einer realen Wetterstation zu tun hätte – nein, das ist nur die Vorhersage eines nicht so tollen Wettermodells für die nächste volle Stunde.

Gibt es eine Entwicklung hin zu noch genaueren seriösen Vorhersagen über mehr als drei bis fünf Tage hinweg?

Wir haben routinemäßig 14-Tage-Trends, auch 46-Tages-Trends bis zu Sieben-Monatsvorhersagen auf kachelmannwetter.com, aber versehen sie mit der Information über einen Unsicherheitsbereich, weil alles andere unseriös wäre. Aber man kann so schon sehen, ob es eher warm, kalt, nass oder trocken ist. Der Wacken-Matsch war schon vor Wochen abzusehen.

Wie kam die Unterhaltung in die Meteorologie? Maßgeblich durch Sie?

Ich wollte nie unterhaltend sein. Ich habe ein großes Latinum und kann erheblich klugschweizern, aber ich stamme auch aus einem Eisenbahnerhaushalt mit einer gesunden Grundvulgarität. Als ich 1986 anfing, im Schweizer Fernsehen zu moderieren – erst ein Naturwissenschaftsmagazin, dann eine politische Talkshow – hatte ich mir vorgenommen, dass ich so spreche, dass es jeder Mensch versteht, und später beim Wetter dieses Wichtigvokabular zu vermeiden, das abgrenzen soll: Niederschlag, Temperaturrückgang, Tiefdruckausläufer. Das war schon alles.

„Alle reden über das Wetter“, heißt es, tatsächlich werden Berichte über Unwetter- und Schönwetterphasen verschlungen. Wie erklären Sie sich das?

Das ist leider das Problem: Weil es so gut klickt, wird kaum über irgendein Thema so viel ausgemachter Blödsinn geschrieben wie über das Wetter. Wenn ich lese, was da jeden Tag abgesondert wird, bleibt nur die Wahl zwischen Brechbecherchen und Beißholz. Dumm klickt gut, das wirkt sich bei naturwissenschaftlichen Themen besonders furchtbar aus.

Sie halten nichts von künstlicher Wetterbeeinflussung wie Hagelflug. Warum?

Ich kann nicht von Dingen etwas halten, die es nicht gibt. Durchgeknallte Schwurbelmenschen glauben an Dinge wie „Haarp“ oder „Chemtrails“. In südlicheren Gefilden unterstützen verlorene Seelen mit öffentlichen und privaten Geldern das skrupellose Betrugsmodell „Hagelfliegen“ – und in Sachsen werden durch Obsterzeuger Kanonen abgefeuert, die das Hagelkorn in drei bis vier Kilometern Höhe durch Lärm erschrecken sollen, mit behördlicher Genehmigung. Wissenschaftsferne ist in Deutschland zur Staatsraison geworden, die Folgen werden furchtbar sein.

Ist es kein berechtigter Menschheitstraum, sich auch das Wetter untertan zu machen und Wüsten zu begrünen?

Ich habe den Menschheitstraum, dass sich die Menschen dem Machbaren und Naheliegenden zuwenden und nicht Hokuspokus aus dem Internet glauben. Und wenn ich einen Wunsch äußern dürfte: Ich bin als kleiner Deutscher mit vier Jahren in die Schweiz gekommen und habe in meiner neuen Heimat auch zu Armeezeiten immer allen gesagt, dass die Nazis bald aussterben und wir nie an der Nordgrenze werden stehen müssen. Es wäre mir recht, wenn AfD-Wähler und -Wählerinnen mich nicht im Alter noch zusätzlich traurig machen wollten und ich nachträglich ahnen muss: Sie lernen‘s einfach nicht.

Das Gespräch führte Silke Hellwig.

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