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Klimakleber gegen Autofahrer Wie ein Bremer Stressforscher den Konflikt auf der Straße einordnet

Immer wieder eskaliert der Konflikt zwischen den Klimaaktivisten der "Letzten Generation" und Autofahrern. Warum die Stimmung beim Protest auf der Straße so schnell kippt, erklärt ein Bremer Stressforscher.
08.08.2023, 05:59 Uhr
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Wie ein Bremer Stressforscher den Konflikt auf der Straße einordnet
Von Kristin Hermann

Herr Fehr, bundesweit geraten immer wieder Aktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ mit Autofahrern im Stau aneinander. Auch in Bremen gab es dieses Jahr bereits Vorfälle. Einige Fahrer reagieren mit viel Wut auf die Sitzblockaden. Wie erklären Sie sich das?

Thorsten Fehr: Vereinfacht gesagt, handelt es sich bei der Debatte um einen Konflikt, bei dem zwei Parteien unterschiedliche Ziele verfolgen. Auf der einen Seite steht die Aktivistengruppe, die sehr überzeugt von dem ist, was sie tut. An ihren Kernaussagen zum Klimawandel zweifelt kaum jemand, da haben sie breite Teile der Wissenschaft hinter sich. Man streitet sich also eher über ihre Methoden und Vorgehensweisen. Straßenblockaden finden in der Regel an Hauptverkehrsadern statt, meist noch zur Rushhour. Viele Autofahrer verspüren großen Stress, weil sie unbedingt von A nach B kommen müssen, um Termine wahrzunehmen, beispielsweise ein wichtiges Meeting, von dem die eigene berufliche Zukunft abhängt oder sie ihre Kinder abholen müssen. Wenn dann Leute auf der Straße sitzen, die den Weg blockieren, führt das bei manchen Menschen dazu, dass sie sich persönlich angegriffen fühlen und aggressiv werden.

Die eigene Zündschnur scheint am Steuer ohnehin deutlich kürzer zu sein als sonst im Alltag. Woran liegt das?

Wir leben inzwischen in einem digitalen Stresszeitalter. Wenn wir Probleme nicht mit irgendeinem technischen System lösen können, fühlen wir uns schnell überfordert. Im Auto steigt dieses Stresslevel noch einmal deutlich an. Es gibt Studien, die bei Autofahrern im Berufsverkehr eine höhere Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin und Kortisol zeigen. Im Vergleich zu Radfahrern oder Menschen, die öffentliche Verkehrsmittel nutzen, sind Autofahrer oft reizbarer. Da wird geflucht, gewettert, geschimpft, wie man es in der Öffentlichkeit nie tun würde. Man denkt, im Auto ist man allein, da hört einen keiner. Da kann man mal richtig vom Leder ziehen und den Frust rauslassen.

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Womit lässt sich das Stresslevel im Auto vergleichen?

Ein überraschender Stau erzeugt laut einer britischen Studie einen ähnlichen Stresspegel, den ein Kampfpilot im Einsatz erlebt. Die Straßenblockaden lösen bei einigen Betroffenen sogenannten Territorialstress aus. Das ist eine Form von Stress, die durch die Evolution seit jeher in uns steckt und die dafür sorgt, dass wir mit maximaler Anspannung reagieren, wenn uns der Weg versperrt oder der Raum um uns herum infrage gestellt wird. Das ist eine Erklärung dafür, warum Autofahrer teils so ungestüm aus der Haut fahren. Aus der Wut wird verbale Aggression und im schlimmsten Fall körperliche Gewalt.

Nutzen die Aktivisten Ihrer Meinung nach bewusst die Straße als Konfliktort? Was versprechen sie sich davon?

Die Aktivisten suchen die größtmögliche Aufmerksamkeit für ihr Anliegen. Da eignen sich neuralgische Knotenpunkte besonders gut. Auch die Form des schweigenden Protests ist besonders. Sie sitzen wie ein buddhistischer Mönch auf der Straße, fast wie ein Mahnmal. Damit wollen sie ausdrücken, Leute, denkt selbst nach, ihr wisst doch, was auf der Welt passiert und warum es wichtig ist, was wir hier machen. Dieses stoische Sitzen, ohne zu antworten, verstärkt jedoch die Wut einiger Autofahrer. Das kennt jeder aus dem eigenen Alltag. Wenn wir uns aufregen und das Gegenüber geht absichtlich nicht darauf ein, fühlen wir uns provoziert. Den anderen aktiv zu ignorieren, ist auch eine Form von Gewalt, das nennt man passive Aggression. Zielführender wäre es, wenn man mit den Menschen trotz der angespannten Lage auf eine vernünftige Art ins Gespräch kommen würde.

Bedeuten die Aktionen auch Stress für die Klimakleber? Gibt es einen Unterschied zum Stress der Autofahrer?

Wenn vor ihnen ein schreiender Autofahrer steht, der Gewalt androht oder sie permanent angehupt werden, ist das natürlich anstrengend und belastend. Generell unterscheidet die Aktivisten von den Autofahrern aber, dass sie sich bewusst in diese Situation begeben, weil sie eine wertebasierte Grundhaltung haben und etwas für unser aller Zukunft positiv verändern möchten. Bei den Aktivisten gibt es extra Seminare, die sie auf den Protest auf der Straße vorbereiten. Sie kalkulieren bei ihren Aktionen einen eigenen Schaden mit ein, weil sie aus tiefer Überzeugung ein Zeichen setzen wollen.

Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Jochen Kopelke, sagte vor Kurzem mit ihren "kriminellen Aktionen und penetranter Rücksichtslosigkeit" sorge die „Letzte Generation“ nicht für eine Steigerung der Akzeptanz für den Klimaschutz. Wie sehen Sie das? Geht dabei der eigentliche Kern der Sache verloren?

Zumindest gelingt es ihnen, das gewünschte Narrativ am Leben zu erhalten. Wenn ich immer wieder im Stau stehe, auf Protestaktionen stoße und in den Nachrichten davon höre, prägen sich bestimmte Stichworte wie Klimakatastrophe automatisch in mein Gedächtnis ein. Das ist grundlegende Psychologie. Ob Menschen dadurch tatsächlich ihr eigenes Verhalten ändern, steht auf einem anderen Blatt. Bei einigen führt die permanente Störung des morgendlichen Arbeitsweges vielleicht auch dazu, stattdessen auf das Fahrrad oder Bus und Bahn auszuweichen. Statistisch gesehen, kann man davon ausgehen, dass ein gewisser Anteil, der in der Lage ist, Pro und Kontra gegeneinander abzuwägen, anfängt, konstruktiv darüber nachzudenken, und ins Handeln kommt. Der Klimawandel ist mittlerweile überall präsent. Auch in Vereinen oder Stammtischen wird inzwischen über Wärmepumpen und über den Sinn von Flugreisen diskutiert. 

In Berlin ist ein Autofahrer einem Klimaaktivisten über den Fuß gefahren. Haben Sie die Befürchtung, dass die Auseinandersetzungen weiter eskalieren könnten?

Der Klimawandel ist etwas, das uns als Gesellschaft enorm unter Druck setzt. Die Sorgen um unsere Zukunft hier auf Erden werden größer. Ich könnte mir deshalb vorstellen, dass die Auseinandersetzungen grundsätzlich noch zunehmen.

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Wie kann gegenseitige Annäherung gelingen?

Da ist Sozialkompetenz von beiden Seiten gefragt. Damit die Nachricht ankommt, muss der Protest wehtun und das öffentliche Ärgernis erregen. Aber man sollte eben die Verhältnismäßigkeiten im Blick behalten. Die Klimaaktivisten könnten sich etwa auf Sitzstreiks verlegen. So bleiben sie im Bewusstsein, aber es wird nicht die körperliche Versehrtheit gefährdet. Da kann man mal schnell weggetragen werden oder selbst beiseitetreten, wenn ein Rettungsfahrzeug passieren muss. Ich würde mir wünschen, dass die unterschiedlichen Parteien mehr in den Dialog miteinander gehen. Warum nicht mal die Zeit im Stau nutzen, um auszusteigen und zu fragen, warum die jungen Menschen da eigentlich sitzen? Demokratie ist anstrengend, Diskussion ist anstrengend, aber es geht schließlich um unser aller Existenz.

Wie gelingt es, Ruhe zu bewahren, wenn das Stresslevel hoch ist?

Es kann helfen, sich zu überlegen: Wie schlimm ist es eigentlich, wenn ich jetzt etwas zu spät zur Arbeit komme, und was kann ich tun, mögliche Auswirkungen zu verringern. Kann vielleicht ein Anruf schon helfen? Vielleicht nutze ich die Zeit, um darüber nachzudenken, wie ich mich selbst klimagünstiger verhalten könnte. Wenn das nicht gelingt, gibt es etliche weitere Methoden, sich selbst wieder zu beruhigen. Schauen Sie sich in einer solchen Situation doch mal aktiv im Rückspiegel an. Wenn ich in mein wutverzerrtes Gesicht blicke, muss ich vielleicht darüber lachen und komme automatisch wieder runter. Oder Seufzen Sie einmal bewusst. Das erfordert ein tiefes Einatmen, das das Zwerchfell entspannt. Auch ein Stressball in der Mittelkonsole kann wahre Wunder bewirken.

Das Gespräch führte Kristin Hermann.

Zur Person

Thorsten Fehr (55) arbeitet seit 2002 an der Universität Bremen im Bereich Forschung und Lehre unter anderem zu Schwerpunkten in der Entscheidungs- und Konfliktforschung.

Zur Sache

Mehr als 100 Verfahren wegen Angriffen auf „Letzte Generation“

Wegen Übergriffen auf Klimaaktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ sind nach Recherchen des RBB bundesweit bisher weit mehr als 100 Ermittlungsverfahren gegen Autofahrer oder Passanten eingeleitet worden. 47 Strafverfolgungsbehörden antworteten auf eine Abfrage von RBB und meldeten Ende Juni insgesamt 142 Ermittlungsverfahren, wovon allein 99 auf die Hauptstadt Berlin entfielen. In den meisten Fällen gehe es um Körperverletzung. Weitere Tatvorwürfe seien Nötigung und Beleidigung. 70 Verfahren seien noch nicht abgeschlossen, in zwei Fällen seien Strafbefehle beantragt worden.

Dabei geht es den Angaben nach zum einen um einen Mann, der bei einer Blockade am Hermannplatz in Berlin versucht hatte, die Hand eines Aktivisten mit einem Feuerzeug anzuzünden. In dem zweiten Fall hatte ein Beschuldigter laut RBB eine Aktivistin von der Straße gerissen, obwohl sie bereits festgeklebt war. Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft laut dem Bericht in allen Fällen, ob die gewalttätigen Übergriffe auch als Notwehr eingestuft werden können. Damit wären sie nicht strafbar. Dies habe bisher jedoch in keinem Fall zugetroffen.

Die „Letzte Generation“ macht seit 2022 regelmäßig mit Sitzblockaden auf Straßen, aber auch mit anderen Aktionen auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam. Die Klimaaktivisten stehen dabei auch selbst im Fokus von Polizei und Staatsanwaltschaft. Es geht dabei um unterschiedliche Tatbestände wie Sachbeschädigung, Nötigung oder Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Bei der Berliner Staatsanwaltschaft sind nach Angaben von Ende Juni bisher rund solche 2000 Verfahren gelandet.

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