Frau Schönberger, Ihr Buch trägt den Titel „Zumutung Demokratie“. Das klingt, als ob Sie sich Sorgen um den Zustand der Demokratie machten.
Sophie Schönberger: Als Verfassungsrechtlerin macht man sich latent eigentlich immer Sorgen um den Zustand der Demokratie. Es gab mehrere Anlässe für den Essay. Zum einen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Immer mehr Verfahren landen in Karlsruhe, bei denen es darum geht, den öffentlichen Raum zu verteidigen. Zum anderen waren es die Ereignisse während der Corona-Pandemie, wo das gesellschaftliche Leben so radikal infrage gestellt wurde wie nie zuvor. Sie haben eine zuvor schon angelegte Krise der Demokratie verstärkt, mit der wir uns beschäftigen müssen.
Ist die Demokratie tatsächlich eine Zumutung?
Ja, aber das ist nicht ein Problem der Demokratie, sondern des Umgangs mit ihr. Offenbar gibt es übersteigerte Erwartungen, die zu Enttäuschungen, Frustrationen, auch zu Wut führen. Die Demokratie löst aber nicht alle Probleme. Sie fordert etwas, nämlich vor allem auch, sich selbst zurückzunehmen.
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Selbstentfaltung und -optimierung seien tendenziell schädlich für die Demokratie, schreiben Sie. Inwiefern?
Beides ist grundsätzlich vom demokratischen Freiheitsversprechen umfasst. Aber je mehr ich mich zum Nabel der Welt mache, desto weniger bin ich bereit, mich mit anderen zu arrangieren und mich in der demokratischen Gemeinschaft einzuordnen. Die Zumutungen der Demokratie sind nichts Neues. Aber die gesellschaftlichen Parameter haben sich verändert: Das Ich nimmt immer mehr Raum ein. Die Orientierung an anderen spielt eine viel kleinere Rolle als in den 1950er- oder 1960er-Jahren. Wer allein lebt, dem fällt es deutlich schwerer, sich in einer Gruppe zurechtzufinden, als jemand, der in einer Großfamilie lebt. Große Freiheiten zu haben, ist eine große Errungenschaft, aber es hat Folgen für die Gleichheit, die das Pendant zur Freiheit ist.
Der Freiheit des Einzelnen stehen die Freiheiten aller anderen gegenüber.
Demokratie funktioniert nur in einer Gemeinschaft, in der man damit leben muss, eine Stimme zu sein unter vielen Millionen Stimmen. Die eigene Meinung oder Haltung, die eigenen Vorstellungen und Wünsche sind nicht mehr oder weniger wert als die aller anderen. Das wird zunehmend als Zumutung empfunden.

Verfassungsrechtlerin Sophie Schönberger
In Ihrem Essay heißt es: „Demokratie ist keine One-Man-Show, kein individuelles Selbstverwirklichungsprojekt und kein Egotrip“. Muss man das eigens formulieren?
Das ist in gewisser Weise eine Folge des großen demokratischen Erfolgs in Deutschland. Wir haben uns so in den großen demokratischen Freiheiten eingerichtet, dass zunehmend aus dem Blick gerät, dass es die Demokratie einer Gemeinschaft bedarf.
Sie stellen auch fest, dass es die Zugehörigkeit zu einer Gruppe einfacher macht, mit den Zumutungen der Demokratie umzugehen. Inwiefern?
Wenn man in einer Demokratie unterliegt, ist der Misserfolg in einer Gruppe einfacher hinzunehmen. Wenn er als individuelles Phänomen aufgenommen wird, kann das persönlich genommen oder gar als individuelle Kränkung aufgefasst werden: Ich werde nicht gehört, meine Stimme zählt nicht. Daraus erwachsen nicht selten Verbitterung und Wut.
Können demokratische Entscheidungen wirklich persönlich genommen werden?
Ich beobachte das, nicht in dem Sinne, dass jemand persönlich beleidigt wäre. Aber man sieht es bei Populisten, wenngleich verbrämt, weil immer kollektiv argumentiert wird. Der Kern des Populismus ist, dass man erklärt, das wahre Volk zu repräsentieren, das man von „den korrupten Eliten“, von „denen da oben“ abgrenzt. Das klingt nach einem Gruppenphänomen, aber dahinter steht nichts anderes als die Verabsolutierung des Selbst: Die anderen sind die, die eine andere Meinung haben, aber meine ist die richtige. Wenn Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger sagt, dass „endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss“, grenzt er Wir und Die voneinander ab. Außerdem negiert er, dass die Entscheidung über das Heizungsgesetz demokratisch getroffen wird, von gewählten Parlamentariern und Ministern.
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Die „Letzte Generation“ ist offenbar auch nicht gewillt, Mehrheitsentscheidungen und -meinungen zu akzeptieren ...
Auf jeden Fall verabsolutiert die „Letzte Generation“ auch die eigene Meinung. Aber zu behaupten, es besser zu wissen als andere, ist noch nicht undemokratisch. Der Unterschied liegt darin, ob man an demokratischen Verfahren festhält und die andere Meinung als Ergebnis demokratischer Prozesse anerkennt, auch wenn man sie für falsch hält. Ich sehe bei der „Letzten Generation“ nicht, dass es an dieser Anerkennung fehlt – anders als bei sogenannten Reichsbürgern oder der AfD, die behauptet, dass demokratisch gefasste Beschlüsse nicht legitim seien.
Dass man andere Meinungen nicht nur aushalten, sondern respektieren muss wie die eigene – davon sind viele Menschen weit entfernt. Das kann man zuhauf in sogenannten Debatten im Internet sehen.
Es mag manchmal schon ziemlich viel verlangt sein, die Meinung anderer auszuhalten. Sie zu respektieren, geht noch darüber hinaus. Man kann intensiv darüber streiten, wie diese Art von Respekt aussehen müsste. Um diese Frage dreht sich auch die Debatte um Wokeness, also die Wachheit und Wachsamkeit gegenüber möglichen Formen der Diskriminierung, und Cancel Culture, das öffentliche Ächten von vermeintlichem Fehlverhalten. Beide Seiten behaupten, diffamiert und nicht respektiert zu werden.
Die Kritik geht zu weit, wenn man andere davon abhält, beispielsweise einen Vortrag von Thilo Sarrazin zu hören.
Wo Gewalt ins Spiel kommt, ist die Grenze überschritten, keine Frage. Das ist undemokratisch und gilt für alle Seiten des politischen Spektrums. Wenn Veranstaltungen wegen Sicherheitsbedenken abgesagt werden müssen, verletzt das die Regeln der demokratischen Auseinandersetzung – wie an der Humboldt-Universität geschehen, weil eine Biologin darüber reden wollte, dass es ihrer Auffassung nach nur zwei Geschlechter gibt. Man kann den Auftritt und die Inhalte scharf kritisieren, man kann protestieren und zum Boykott aufrufen. Auch das wird von Befürwortern der Veranstaltung allerdings oft schon als Diffamierung angesehen. Die einen wollen die andere Meinung nicht aushalten, die anderen nicht die Kritik an ihrer Meinung.
Die Digitalisierung trägt zur Zerrüttung der Demokratie bei – durch Enthemmung, Vereinzelung und durch einseitige Debatten. Eigentlich hatte man gehofft, dass das Internet die Demokratie stärkt, durch größere demokratische Teilhabe, durch Schwarmintelligenz, durch Informationen, die in autoritären Staaten sonst nicht verbreitet werden.
Die großen Erwartungen haben sich nicht erfüllt, das stimmt. Die Digitalisierung der Kommunikation hat Licht- und Schattenseiten. Momentan sehen wir vor allem die Schattenseiten, weil wir noch keine überzeugenden Antworten auf die Prozesse der Meinungsbildung im Internet haben, die teilweise zerstörerisch auf die Debattenkultur wirken.
Welches ist die größte Gefahr?
Mich beunruhigt die enthemmte Kommunikation im digitalen Raum, in Form von Bedrohungen, Beleidigungen, massiven Anwürfen und Verhetzungen, die eine extrem einschüchternde Wirkung haben können. Das gilt vor allem auch für die, die sich engagieren wollen. Da ist lange nichts passiert, langsam tut sich was, indem beispielsweise Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften gebildet werden, um solche Delikte im Netz zu ahnden. Das ist dringend nötig, damit Menschen nicht davor zurückschrecken, sich demokratisch zu engagieren.
Der öffentliche Raum, in dem sich Menschen begegnen und austauschen können, spielt Ihrer Meinung nach eine große Rolle für die Demokratie. Sie sehen zwei Gefahren – die Kommerzialisierung und die Musealisierung. Können Sie das bitte näher erläutern?
In Passau wollte der Besitzer eines Einkaufszentrums einen „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ verbieten. Das Bundesverfassungsgericht ur-teilte, dass die Fläche, die absichtlich aussieht wie öffentlicher Raum, um kommerziellen Interessen nachzugehen, öffentlich genutzt werden darf, auch wenn sie in Privatbesitz ist. Ein ähnlicher Fall betrifft den Frankfurter Flughafen. Zu ihm gehört eine Shoppingmeile, die auch diejenigen nutzen können, die nicht fliegen wollen. Die Betreiberin Fraport wollte nicht tolerieren, dass dort politische Flugblätter verteilt werden und sich sozusagen die Demokratie Bahn bricht. In beiden Fällen hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass man das eine nicht ohne das andere haben kann.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz der Bundesregierung sehen Sie allerdings kritisch. Warum?
So sehr ich das Ergebnis politisch begrüße, weil die Politik zu mehr Klimaschutz gezwungen wird, so sehr sehe ich das Urteil auch als einen Baustein in der Entwicklung, dass der Einzelne in den Mittelpunkt gestellt wird. In diesem Fall als Korrektiv, aber es geht darum, dass Einzelne einfordern, dass ihre individuelle Zukunft besser vor dem Klimawandel geschützt wird. Die Argumentation des Gerichts ist meiner Meinung nach vor diesem Hintergrund unter demokratischen Gesichtspunkten nicht unproblematisch, weil Gemeinwohlinteressen hinter diesem individuellen Anspruch zurückstehen. Das Urteil spiegelt insofern auch den Zeitgeist.
Und welche Gefahr besteht in der Musealisierung?
Das Zusammenleben in einer Stadt funktioniert nicht mehr, wenn die Stadt von Touristen überrannt wird, die sich nicht an die sozialen Regeln der Gemeinschaft der Einwohner halten. Die Regeln sind dazu da, dass man miteinander auskommt, dass man einander erträgt. Städte wie Venedig haben es sehr schwer, das fragile Zusammenleben in der Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Auch das gefährdet die Demokratie.
Zu guter Letzt: Was ist zu tun?
Wir müssen wieder stärker miteinander leben. Eine Aufgabe der Politik muss es sein, Stätten der Begegnung zu schaffen. Es wird sehr viel über demokratische Bildung gesprochen. Es gibt viele vorbildliche Projekte, aber das ist nur ein Teil dessen, was wir brauchen, um die Demokratie zu schützen. Man muss die Demokratie erleben und mit mehr Sinnen wahrnehmen können als mit dem Verstand. Das wird leider noch viel zu wenig in den Blick genommen.