Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Essay zum Ehrentag Schon wieder Muttertag: Muss das sein?

Jedes Jahr am zweiten Sonntag im Mai werden Mütter mit Blumen und Basteleien überhäuft. Manchen geht das auf den Geist, selbst Frauen stellen den Sinn des Muttertags infrage. Aber warum?
12.05.2024, 06:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Schon wieder Muttertag: Muss das sein?
Von André Fesser

Die Blumen im Wasser, die Bilder getuscht, die Pralinen verpackt – im feinen Seidenpapier vielleicht, oder, etwas kitschiger, im Geschenkpapier mit den dicken, roten Herzchen. Ganz gleich, wie üppig der Liebesgruß ausfallen soll: Der Muttertag sorgt bei kleinen und großen Kindern in jedem Jahr aufs Neue für Stress. Denn mit ein paar Süßigkeiten ist es ja nicht getan. Mutter soll auch noch das Frühstück ans Bett erhalten und nachmittags in das Café im Park ausgeführt werden. Manch einem wird die Frage durch den Kopf gehen: Muss das alles sein?

Es mag befremdlich wirken, wenn Männer, um die es am Muttertag nicht geht und denen nach der Himmelfahrtssause noch der Kopf schmerzen könnte, diese Frage in den Raum werfen. Doch es sind auch Frauen, die mit dem Ehrentag im Mai nichts anfangen können. "Schafft den Muttertag endlich ab!", forderte die "Spiegel"-Kolumnistin und Mutter Anna Clauß zum hundertjährigen Bestehen des Muttertags in Deutschland vor einem Jahr. Erst vor ein paar Tagen stellte dann auch die Journalistin Ursula Weidenfeld im gleichen Medium die Sinnhaftigkeit des Muttertags infrage.

Geht es nach Weidenfeld, könnte man gleich eine ganze Reihe von Feier- oder Gedenktagen kassieren: den Tag der Arbeit zum Beispiel oder auch Himmelfahrt, Pfingsten und Fronleichnam. Sie alle haben an Bedeutung eingebüßt, weil die dahinter stehenden Institutionen – Gewerkschaften und Kirchen – an Mitgliedern und infolgedessen auch an Zugkraft verloren haben. Auf den freien Tag mit Familie, Freunden oder dem eigenen Garten wird unter Christen, Gewerkschaftern oder allen anderen wohl niemand verzichten wollen. Aber trägt man damit wirklich dem Anlass Rechnung? Die Autorin vermutet, dass es den meisten gar nicht um das Fest an sich geht: "Wer weiß ohne Hilfe des Internets, was an Pfingsten kirchlich gefeiert wird?"

Mutter werden? Lieber nicht!

Auch die Zukunft des Muttertags hält Weidenfeld für diskutabel: Der Wunsch junger Menschen, eine Familie zu gründen und Kinder zu kriegen, nehme ab, schreibt sie unter Berufung auf Soziologen. Dahingegen nähme das Maß der Umwelt- und Zukunftssorgen zu, dazu "die Angst vor zu hohen Belastungen" und die Sorge, mit der Kinderbetreuung und -erziehung alleingelassen zu werden. Zwar hätten alle Frauen eine Mutter, "doch selbst eine werden wollen viele nicht mehr".

Lesen Sie auch

Aber ist das ein Grund, den Muttertag aus dem Kalender zu streichen? Jene Frauen, die Mutter geworden sind und viel Zeit und Kraft investiert haben, das Kind auszutragen, es zu ernähren, zu pflegen, zu erziehen und zu bilden, können ja nichts dafür, dass andere dieses Ehrenamt lieber nicht verrichten möchten. Sollen sie deswegen auf die verdiente Würdigung verzichten, selbst wenn sie ihnen nur einmal im Jahr zuteilwird?

Geht man den Ursprüngen dieses Tages auf den Grund, finden sich noch eine Reihe weiterer Gründe, den Muttertag infrage zu stellen, ihn vielleicht sogar abzuschaffen. Viele mag die Kommerzialisierung stören. Kommen kleine Kinder am Muttertag noch mit Gebasteltem, Gemaltem oder Getöpfertem ("Wie schön, ein Aschenbecher!") an den Frühstückstisch, müssen große Kinder schon mindestens in den mittelgroßen Blumenstrauß investieren. Denn wer möchte schon den Eindruck erwecken, dass man die angeblich unermessliche Liebe zur eigenen Mutter mit dem Zehn-Euro-Gebinde aus dem Supermarktfoyer aufwiegen wolle? Bedenkt man aber, dass es in den 1920er-Jahren maßgeblich der Verband der Blumengeschäftsinhaber war, der den in den USA schon einige Jahre zuvor etablierten Muttertag in Deutschland zum "Tag der Blumenwünsche" machte, bekommt die Sache ein Geschmäckle: Geht es etwa doch nicht um Liebe, Dank und Anerkennung, sondern nur ums Verkaufen?

Flecken auf der Erzählung

Auch der weitere Fortgang der Geschichte hinterlässt ein paar braune Flecken auf der bunten Erzählung, denn die Nationalsozialisten betrieben einen regelrechten Mutterkult und machten den Muttertag nach 1933 zum offiziellen Gedenktag. Dahinter steckte Kalkül, wie der "Taz"-Journalist Jan Feddersen vor fast 20 Jahren feststellte: "Die Nazis wollten Frauen als Kameradinnen, noch lieber aber als Gebärmaschinen. Die Mutter war eine Heilige im völkischen Wahn, geehrt zum Muttertag, dem zweiten Sonntag im Mai." Warum, fragt Feddersen, werde dieser Tag heute noch gefeiert?

Es sind auch die sich daraus ergebenden Assoziationen, die mancher Mutter auf den Geist gehen, und das zu Recht. Am Muttertag hängt auch ohne Nazi-Vergangenheit etwas Gestriges. Wer an den Muttertag denkt, hat zwangsläufig das Bild vom Heimchen am Herd im Kopf. Von der Frau also, die morgens als Erste aufsteht, die Brotdosen packt und die Kinder in die Kita bringt, um dann gleich einzukaufen und mittags das Essen auf den Tisch bringen zu können, bevor sie die Waschmaschine leert und die Wohnung durchsaugt. Niemand käme auf die Idee, einen Muttertag zu erfinden, um eine Vollzeitberufstätige, die abends mal länger in Meetings hängt und auch am Wochenende an ihrer Karriere bastelt, während das Kindermädchen die Kinder bespaßt, für ihren Mutterdienst mit Blumen und Frühstück zu ehren.

Lesen Sie auch

Dabei verdient auch diese Lebensführung Beachtung und Respekt. Denn ist eine Frau, die berufstätig und an ihrem eigenen Glück interessiert ist, gleich eine schlechte Mutter? Ist es – ganz im Gegenteil – nicht sinnvoll, das Steuerrad des Lebens auch dann in der Hand zu behalten, wenn die Kinder noch klein sind? Denn irgendwann sind sie groß und die Frau, die bislang das Essen gekocht und die Wäsche gewaschen hat, muss sich fragen, wie sie ihr weiteres Leben gestaltet. Ist der Mann noch da? Die Altersvorsorge gesichert? Fragen, die am Muttertag kaum thematisiert werden, weil sich die Familie dann Harmonie verordnet hat.

"Extrem idealisiert"

Dabei ist Muttersein auch unbequem. Doch kaum jemand hinterfragt die Lage von Müttern, schlichtweg, weil es nicht opportun ist und sich die Betroffenen nicht beklagen: "Eine Mutter muss immer glücklich sein, sie muss ihre Kinder lieben, ihre eigenen Bedürfnisse immer hintanstellen und von der Mutterrolle erfüllt sein – egal, unter welchen Bedingungen sie sich durchs Leben schleppt", wird die Züricher Psychotherapeutin Linda Rasumowsky in einem Beitrag des Rundfunksenders SRF zitiert, in dem es um Frauen geht, die ihre Mutterschaft bereuen. Rasumowsky zufolge werde das Mutterbild noch immer "extrem idealisiert".

So ist es auch zu erklären, dass beim Ausflug ins Grüne – die liebe Mutter auf dem Beifahrersitz – niemand ernsthaft über die Einkommenssituation oder die Zukunftsoptionen der eigenen Mutter sprechen möchte. Den zweiten Sonntag im Mai will auch niemand als Tag der alleinerziehenden oder der berufstätigen Mutter verstanden wissen – obwohl er auch dies ist. Dafür gibt es ja den 8. März, den Frauentag, der schon ähnlich lange im Kalender stehen könnte wie der Muttertag. Er hat vor allem im Nachkriegswestdeutschland aber keine wesentliche Rolle gespielt und erlangte erst nach der Wiedervereinigung auf Betreiben von Frauen in Ost und West allmählich die Bedeutung, die er heute hat. Am 8. März werden die wesentlichen Fragen gestellt, die unbequemen, aber lebensnotwendigen, nach Chancengleichheit zum Beispiel. So müsste man den Muttertag auch nicht gleich abschaffen. Er könnte sich aber emanzipieren und vom Blumen-und-Pralinen-Tag zu einem lebensnäheren und auch politischeren Tag wandeln.

Würde man die Mütter fragen, dann würden viele von ihnen die Notwendigkeit eines eigenen Ehrentags vermutlich verneinen: "Macht euch keine Mühe, Kinder", hieße es dann, oder: "Ich weiß doch, dass ihr an mich denkt." Das stimmt in den meisten Fällen sogar. Schon die Bibel hat es – lange vor der Einführung des Muttertags – vorgegeben. Dort steht, dass man Mutter (und Vater) ehren soll. Dem könnte man in den meisten Fällen zustimmen. Nur sollte man ergänzen: Nicht nur muttertags, sondern immer.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)