Ein Klimasystem, das aus der Balance geraten ist. Kriege, beängstigende technische Entwicklungen. „Die Welt ist verrückt geworden“, wird jetzt oft gesagt. Ein Satz, der Ängste, Unsicherheit und Ratlosigkeit ausdrückt. Was kann in solchen Krisenzeiten helfen, was hat das Zeug, zu stabilisieren und Mut zu machen? Hier kommt ein Lösungsangebot, über das es sich zumindest nachdenken lohnt: die Rückbesinnung auf Tugenden.
Was das anbelangt, können wir Deutschen uns eigentlich beruhigt zurücklehnen, gibt es doch gleich einen ganzen Kanon davon bei uns. In der Tat haben die „deutschen Tugenden“ (die übrigens grenzübergreifend im gesamten deutschen Sprachraum und auch darüber hinaus geschätzt werden) eine strukturierende Funktion, die ein gut funktionierendes, soziales Miteinander ermöglicht. So weit, so gut. Aus der Theorie wird allerdings nur dann eine positive Realität, wenn ein Großteil der Gesellschaft auch tatsächlich „tugendhaft“ handelt und, auch sehr wichtig, wenn sich Tugenden flexibel weiterentwickeln. Rechthaberei, Sturheit und Unbeweglichkeit gehören nämlich nirgends in das Kompasssystem der Tugenden.
Pünktlichkeit ist die Tugend der Könige
Eine der weltweit am meisten geschätzten deutschen Tugenden ist die Pünktlichkeit. Um sie zu erleben, ist man zugegeben heutzutage fast besser in Japan aufgehoben. Dort fahren zum Beispiel die Züge buchstäblich auf die Sekunde genau ab. Lassen wir aber die Deutsche Bahn hier mal großzügig beiseite (ist schließlich auch eine Tugend). Auf individueller Ebene ist Pünktlichkeit eine Tugend, die anderen Menschen Respekt zollt. Jeder hat seinen Zeitplan, jeder seine Verpflichtungen. Also wartet niemand gern und ergo sollte man auch niemanden dazu zwingen. Punkt. Respektlos über die Zeit anderer zu verfügen, ist auf der ganzen Welt verpönt. Und doch, selbst die Pünktlichkeit ist als Tugend in letzter Zeit nicht ganz ungeschoren davongekommen. In der Arbeitswelt etwa, vor allem, wenn es um internationale Kontakte geht, wird zeitliche Flexibilität immer wichtiger. Meetings dürfen inzwischen auch recht kurzfristig verlegt, Deadlines verschoben werden. Die „neuen“ Termine werden dann allerdings bitte pünktlichst eingehalten!
Fleißige Bienen werden überall geschätzt
Wie steht es mit der Tugend „Fleiß“? Ja, auch die gilt noch und besitzt in großen Teilen der Welt einen hohen Stellenwert. Wer fleißig ist und deshalb eine gewisse Leistung bringt, genießt noch immer weiter großes Ansehen. Verändert hat sich allerdings, dass Fleiß inzwischen nicht mehr nur zeitlich definiert wird. Wie lange jemand – in welchem Umfeld auch immer – arbeitet, ist also nicht der einzige Gradmesser. Zunehmend mehr Gewicht bekommt schlicht das Ergebnis der Arbeit. Frage: Wenn A seinen kleinen Garten zum Herbstanfang in vier Stunden tadellos auf Vordermann bringt und B für die vergleichbare Aufgabe nur drei Stunden benötigt, ist B dann weniger fleißig?
Geradezu haushoch im Kurs steht gegenwärtig fast überall die deutsche Tugend des Ordnungssinns – kein Wunder eigentlich in unserer etwas konfusen Welt. Dabei geht es aber jetzt nicht mehr um Fußböden, von denen sprichwörtlich gegessen werden kann. Viel wichtiger ist eine effiziente Ordnung geworden; egal, ob es sich um den privaten Wohnbereich, den Arbeitsplatz oder öffentliche Räume handelt. Überschaubarkeit, einfache Handhabung, Zeit- und Platzersparnis, darum geht es. Und: Der Weg ist hierbei das Ziel.
Achtsam sparsam
Hand in Hand mit der – angestrebten – Ordnung spaziert die Tugend der Sparsamkeit. Hört sich altmodisch an? Wahrscheinlich ist es das auch, wenn dabei ausschließlich ans Geld auf dem Sparbuch gedacht wird. Tatsächlich aber will Sparsamkeit heute viel umfassender betrachtet werden. „Achtsam mit Ressourcen“ umgehen und „nachhaltig wirtschaften“ hört sich doch gleich viel zeitgemäßer an, oder? Unterm Strich aber ist das die gute alte Sparsamkeit, die einst unser Überleben in schlechten Zeiten garantierte.
So ambivalent geht es insgesamt bei den Tugenden zu. Während sie einerseits – siehe oben – als Vehikel für Stabilität dienen, werden sie andererseits als überholt, als konservativ, ja sogar als autoritär diffamiert. Als klassisches Beispiel kann dafür die Tugend des Pflichtbewusstseins herhalten. Die Geschichte hat nicht nur, aber vor allem auch die Deutschen gelehrt, dass diese Tugend blitzschnell zur Untugend wird. Wenn man ihr blind und kritiklos folgt, kann das auf allen Ebenen zu unermesslichem Leid führen. Aber ist das ein Grund, Pflichtbewusstsein rundweg abzulehnen? Nein, bitte nicht! Auch bei „null Bock auf gar nix" ist es elementar, zur Arbeit zu gehen, sich um kranke Familienmitglieder, Freunde oder Tiere zu kümmern, eben seine Pflicht zu tun. Die Pflicht muss aber persönliches Verantwortungsbewusstsein und ethisch vertretbare Moralvorstellungen kompromisslos beinhalten.
Nichts geht über Liebe
Es ist faszinierend, wie lange schon „unsere“ Tugenden zu den Grundfesten des menschlichen Zusammenlebens gehören. In der griechischen Antike etwa nahmen Tapferkeit und Mäßigung (nicht nur beim Essen und Trinken, sondern auch in Sachen Selbstbeherrschung) einen hohen Stellenwert ein. Die sogenannten „Tugenden des Herzens“, wie sie die christliche Lehre einfordert, sehen die Fähigkeit, zu lieben, als höchstes menschliches Gut und als Krone des Wertekanons an. Lieben zu können, ist also ein Thema für sich …
Die „deutschen Tugenden“ haben sich natürlich ebenfalls vor dem erwähnten geschichtlichen Hintergrund herausgebildet, wurden darüber hinaus aber auch von anderen Einflüssen geprägt. So hat etwa der Pietismus neben der Gottesfurcht vor allem den Fleiß in den Vordergrund gestellt. Mit der Aufklärung kamen Tugenden wie Vernunft, Ordnung und Disziplin dazu. Die Preußen gaben dem Ganzen schließlich den letzten Schliff. Für ihr militärisch geprägtes Staatsgefüge benötigten sie Untertanen, die Gehorsam, Effizienz und Pflichtbewusstsein verinnerlichten.
Preußen ist Geschichte und auch das preußische Wertesystem hat ausgedient. Welche Regeln sind heute im zwischenmenschlichen Umgang wichtig? Als „moderne“ Tugend gilt die Empathie, die oft mit Mitleid verwechselt wird. Empathie befähigt einen Menschen, sich in eine andere Person hineinzuversetzen, ihre Beweggründe für bestimmte Handlungen oder Ansichten zu verstehen. Als erstrebenswert gilt zudem auch Authentizität. Sie erlaubt es dem Einzelnen, zu sich selbst und seinen Ansichten zu stehen, sich nicht verbiegen und vergleichen zu müssen.
Empathie und Authentizität werden in der gesamten westlichen Welt geschätzt. Bescheidenheit dagegen kommt nicht überall gleich gut an, genießt aber speziell in Skandinavien große Bedeutung. Ganz anders in den USA, wo Tugenden wie Eigeninitiative und Unternehmergeist ganz oben in der Werteskala rangieren.
Während es bei den Tugenden also leichte Abweichungen gibt, ist man sich bei den Untugenden ziemlich einig. Geiz, Gier, Unzuverlässigkeit, Unehrlichkeit, Verschwendungssucht und Prahlerei machen überall unbeliebt.