Das Wort hat kein gutes Image. Wer meint, für ihn sei etwas eine Zumutung, für den ist der sprachliche Schritt zur Unverschämtheit ein kleiner. Wer jemandem etwas zumutet, der wagt einen Angriff auf das in sich ruhende Selbstverständnis seines Gegenüber. Er könnte ihn aus der Fassung bringen.
Die Zumutung bekommt allerdings einen positiven Beigeschmack, wenn man sie sich selbst antut. Menschen laufen Marathon oder steigen auf Berggipfel. Manche lernen Chinesisch, andere wühlen sich durch die ungekürzte Ausgabe von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Weil sie finden, dass es sie weiter bringt, über ihren bisherigen Horizont hinaus, körperlich oder mental. Diese Art von Erkenntnisgewinn ist auch Sinn und Zweck von Theater, Musik, Film, bildender Kunst, Literatur – die wirkungsvollste Kultur ist immer auch Zumutung. Sie muss aufregen, man muss sich an ihr reiben können. Das kann eine postdramatisch überkandidelte Theaterinszenierung sein, der Filmfestspiel-Gewinner "Triangle of Sadness" mit seiner wüsten Kapitalismuskritik oder eine bis an die körperlichen Grenzen gehende Performance von Marina Abramovic.
Verbotsdiskussionen gab es dabei immer schon, in zivilisierten Ländern verstummen die meisten schnell im Angesicht der verbrieften Freiheit der Kunst. In den vergangenen Jahren, geprägt durch das Dauer-Gesabbel in den sozialen Medien, ist allerdings vieles, was übliche kulturelle Zumutung ist, mit einem mordsmäßigen Geschrei zum Mega-Skandal hochgekocht worden. Streit gehört dazu, er ist belebend, weil man so eigene Positionen überprüfen kann. Aber genau daran mangelt es immer mehr. Es macht sich eine Unwilligkeit zu wirklicher Auseinandersetzung breit; lieber wird sofort eine moralisch grundierte Instantmeinung in Anschlag gebracht. Anders gesagt: Man liest eine Überschrift in einem Online-Portal und blökt schwuppdiwupp "weg damit" oder "Zensur". Die Tugendwächter von links und rechts, konservativ oder progressiv, halten ihre Weltbildschablonen immer frisch geputzt.
Ablehnung als Beleidigung
Als im vergangenen Jahr Kim de l'Horizon, eine sich als non-binär definierende Person, für den Roman "Blutbuch" den Deutschen Buchpreis zugesprochen bekam, gab es nicht nur Lob. Das Buch ist kein klassischer Roman, sondern besteht aus auto-fiktionalen Versatzstücken von einer großen Sprachgewalt und nimmt eine ungewöhnliche Perspektive ein. Von den ausführlich geschilderten pornografischen Szenen kann man dabei abgestoßen sein, einige Längen hat das Werk zudem. Eine wilde Mischung also; die ablehnenden Kritiken fokussierten sich allerdings darauf, Kim de l'Horizon als Person wüst zu beleidigen oder im Roman sexistische oder rassistische Passagen gelesen haben zu wollen.
Schlagworte wie Sexismus oder Rassismus sind sowieso ein beliebtes Mittel in den jeweiligen Debatten, weil sie absolut sind. Das geht dann gerne in beide Richtungen. Als bei der Documenta 15 offen antisemitische Kunstwerke gezeigt wurden, wandten sich viele angewidert von der gesamten Megaschau ab; schade für die vielen Künstler, die damit nichts zu tun hatten. Die Geschäftsführung reagierte zudem bockig, drehte den Spieß um und sprach von Rassismus gegenüber den Kuratoren aus Indonesien. Auseinandergesetzt hatte man sich zuvor offenbar nicht so genau mit deren Kunstauffassung, sondern sie einfach machen lassen. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass inspirierende Zumutung durch Kultur dort aufhört, wo offen die Menschenwürde angegriffen oder zum Hass aufgerufen wird. Einen Juden mit Hakennase als Figur auf ein Plakat zu pinseln, ist keine Kunst, sondern Hetze, egal, welchen kulturellen Hintergrund sein Schöpfer hat.
Taucht diese Figur allerdings in einer TV-Serie wie "Babylon Berlin" auf, die in den 1930er-Jahren in Deutschland spielt, auf der Titelseite des Nazi-Hetzblatts "Völkischer Beobachter", ist die Situation eine völlig andere. In diesem Fall wird so Zeitkolorit hergestellt. War es bis vor einigen Jahren noch unstrittig, dass Kunstwerke in den historischen Zusammenhängen, in denen sie entstanden sind oder entstehen, bewertet werden, ist das längst nicht mehr Konsens. Inzwischen gilt: Irgendwer könnte sich irgendwie immer beleidigt fühlen. Das geht los bei Pippi Langstrumpf und dem "Südseekönig" und es endet leider noch lange nicht bei Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras".
Dieser wegweisende deutsche Nachkriegsroman, erschienen 1951, wird ab 2024 Abitur-Lektüre an berufsbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg. Koeppen malt in einem Bewusstseinsstrom die Atmosphäre im München der Nachkriegszeit, sie ist verstörend und menschenverachtend. Das N-Wort fällt sehr oft: Weil die beiden (schwarzen) Hauptfiguren damit konfrontiert werden – aus dem Schimpfwort Jude ist nach 1945 in Deutschland das Schimpfwort "Neger" geworden. Ausgerechnet eine Deutschlehrerin startete eine Petition gegen das Buch als Schulstoff, die von 7000 Menschen unterzeichnet wurde. Sie sei "in Tränen ausgebrochen" bei der Lektüre, sagte die Pädagogin laut "Tagesspiegel" und wolle sich nun beurlauben lassen. Das eigentliche Traurige ist, dass ausgerechnet eine Germanistin den (Hinter-)Sinn von fiktionaler Literatur nicht begriffen hat.
Ein weiteres Beispiel betrifft den Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer, der für seine "Genienovelle" einen Förderantrag beim Kanton Basel-Stadt stellte. Die eingereichte Textprobe spielt in den 1960er-Jahren, ist erzählt aus der Perspektive eines damals 65-jährigen Mannes, der von "Zigeunern" spricht. Weil der Duden das Wort als diskriminierend einstuft, soll Sulzer nicht gefördert werden. Auch hier: Der Zusammenhang ist unwichtig, das Schlüsselwort wird mit einer stupiden Stumpfheit absolut gesetzt.
Ohne Ecken und Kanten
Man könnte mittlerweile einige solcher Beispiele anführen, und den Verlagen ist es ernst: Viele beschäftigen inzwischen "Sensitivity Reader", die darauf achten, dass Bücher gegenüber allen möglichen Anwürfen sturmfest sind. Doch warum will man die Leserinnen und Leser unbedingt in Watte packen, warum sollten Kunstwerke, die immer zugespitzt und vieldeutig sind, ihnen nichts mehr zumuten? Und wo hört das eigentlich auf in einer Gesellschaft, die sich ständig in immer kleinere Identitätskästchen sortiert? Im schlimmsten Fall in Geschichten ohne Ecken und Kanten, flauschig weichgespült. Und unendlich langweilig.
Natürlich sind auch andere Bereiche betroffen von diesem Blitzsauberkeitswahn. Die populäre Musik steht unter Dauer-Beobachtung, Stichwort: Sex, Drugs & Rock'n'Roll. Sogar die Godmother of Punk, Patti Smith, hat es getroffen, beziehungsweise ihren Song "Rock'n'Roll Nigga", den Streamingdienste aus dem Portfolio nahmen. Wer da nicht versteht, dass es in dem Lied um Außenseitertum geht, dem ist nicht mehr zu helfen. Eher ein Treppenwitz sind dagegen die Einblendungen bei Amazon prime und Netflix, in diesem Film oder jener Serie seien "Alkoholkonsum, Gewalt, sexuelle Inhalte" enthalten. Man könnte polemisch fragen: Was ist mit den Leuten, die sich von Donuts abgestoßen fühlen? Und sind nicht Stöckelschuhe ein Affront für alle, die Probleme mit den Gelenken haben?
Ende Mai erwischte es die Altmeister der bissigen Satire. Der Filmklassiker "Das Leben des Brian" von Monty Python soll 2024 in London am Theater inszeniert werden. Doch es droht Ungemach, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtet. Es geht um die Rolle von Stan, einem Mann, der eine Frau sein und Babys bekommen möchte, dafür will die Widerstandsbewegung gegen die römischen Besatzer sich einsetzen. Doch der Anführer der Rebellentruppe lehnt ab: Das sei ein "Kampf gegen die Realität". Vor 45 Jahren zog der Film den Zorn rechter religiöser Fanatiker auf sich. Heute haben, ein Jahr vor der Premiere, die Darsteller des Bühnenstücks Angst vor Protesten queerer Gruppierungen. Solche Witze könne man heute nicht mehr machen, heißt es. Nun wird überlegt, die Szene zu streichen.