Winter 1949, Polen nach dem zweiten Weltkrieg. Der Komponist und Pianist Wiktor Warski (Tomasz Kot) reist mit einer Choreografin und einem Vertreter der polnischen Kulturbehörde durch das kriegsversehrte, von Trostlosigkeit überschattete Land. Sie wollen ein Folkloreensemble gründen, ziehen dafür mit einem Aufnahmegerät von Tür zu Tür. Dort suchen sie nach traditionellen Melodien und talentierten, jungen Menschen.
Als Zuzanna „Zula“ Lichon (Joanna Kulig) bei einem Vorsingen den Raum betritt, ist es um Wiktor geschehen. Die Femme fatale ist anders als die anderen, vor allem als er selbst. Es ist der Beginn einer komplizierten, teils giftigen, aber unzerstörbaren Liebesgeschichte, die sich wie ein blutroter Faden durch den ganzen Film ziehen wird. Pawlikowski erzählt sie frei von Kitsch und in schwarzweiß: Die Melancholie kennt keine Farben.
Ängste und Sorgen eine Melodie geben
Schon der erste Auftritt des Ensembles wird zum großen Erfolg. In traditioneller Trachtenkleidung schweben die jungen Künstler über die Bühne, geben den Ängsten und Sorgen des einfachen, polnischen Volks in ihren Liedern eine Melodie. Inbrünstig besingen sie die Liebe als einzigen Hoffnungsträger in dunklen Zeiten: Zeilen wie „Mein Herz wäre aus Stein, wenn es den Jungen nicht kennen würde“ oder „zwei Herzen, die nichts wehtun, weil ihr euch nicht treffen könnt“ prägen die Texte und die heimlichen Blicke, die sich Zula und Wiktor immer wieder zuwerfen.
Der musikalische Erfolg bleibt auch den führenden Politikern nicht verborgen. Fortan muss das Ensemble unter der Flagge Stalins singen, unter dessen Einfluss Polen nach dem Krieg geraten war. Begriffe wie „Agrarreform“ werden nun kunstvoll in die Texte gewebt. Künstler und Freigeist Wiktor kann das nicht ertragen. Er will authentische Folkloremusik machen, findet in der geteilten Welt des Kalten Krieges weder Raum noch Heimat für seine Gefühle. Er beschließt, der Enge Polens nach einem Auftritt in Ostberlin für immer den Rücken zu kehren. Wiktor liebt den Jazz, will dorthin, wo der gerade zu erblühen beginnt: nach Paris. Er bittet Zula, ihn zu begleiten. Die stimmt zu, ein langer Kuss besiegelt die heimlichen Pläne. Um Mitternacht wartet Wiktor vergeblich. Die Wege trennen sich. Drei Jahre später steht Zula unerwartet vor der Tür. Sie verspricht, zu bleiben. Doch es kommt anders.
Musik als bevorzugtes Ausdrucksmittel
Liebesgeschichten wie die von Zula und Wiktor sind in der Filmwelt nicht revolutionär. Oft schon hat es Paare gegeben, die sich an ihrer Gegensätzlichkeit abgearbeitet haben, die an der Enge äußerer Umstände kaputtgegangen sind. Nicht viele davon aber kommen derart unaufgeregt und trotzdem eindringlich daher wie in „Cold War – Der Breitengrad der Liebe“.
Der polnisch-britische Regisseur ist ein Freund des bewussten Auslassens: In vielen Szenen verzichtet er auf das gesprochene Wort. So wird schon zu Beginn des Filmes minutenlang nur gesungen, wenn düstere Bilder von zerstörten Kirchen und nebelschweren, verwaisten Landschaften auf der Leinwand erscheinen. Auch wenn sich die Wege Wiktors und Zulas im Verlauf der Jahre immer wieder trennen, muss der Abschied meist ohne Worte auskommen – umso schmerzhafter ist er dadurch für den Zuschauer. In Zeiten, in denen die Dinge unsagbar sind, wird Musik zum bevorzugten Ausdrucksmittel. Schon in seinem Oscar-prämierten Film „Ida“, in dem die Hauptfigur Ida ins Polen der Nachkriegszeit fährt und sich dort auf eine Reise in die eigene Vergangenheit begibt, hat Pawel Pawlikowski bewiesen, dass weniger im Film oft mehr sein kann. Auch dort zeigt er das Geschehen in schwarzweiß, wählt mit 4:3 ein kleines Bildformat.
Während sich die Handlung des Filmes zum Ende hin zuweilen fast ins Unerträgliche steigert, bleiben die Übergänge meist abrupt, teils abgehackt. Der harte Schnitt trennt nicht nur die zwei Liebenden, sondern auch die Szenen voneinander – bietet dem Zuschauer dadurch aber auch die Möglichkeit, Distanz zum Gezeigten zu wahren. Körperlich nah kommen sich Wiktor und Zula nur selten – meist steht ein Flügel, manchmal auch eine andere Person zwischen ihnen. Der ständige Augenkontakt wird dann zum einzig verbindenden Element. Tomasz Kot (Wiktor) und Joanna Kulig (Zula) sind in Polen als Schauspieler keine Unbekannten, auf der großen Leinwand jedoch sind sie bisher nicht in Erscheinung getreten. Den ruhigen, charismatischen Wiktor und die rebellische, schöne Joanna Kulig verkörpern sie meisterlich.
Ein Film mit Nachhall
„Für meine Eltern“ erscheint im Abspann des Filmes auf der Leinwand. Er offenbart: In „Cold War“, für das er selbst das Drehbuch geschrieben hat, beschreibt Pawel Pawlikowski die Liebesgeschichte seiner inzwischen verstorbenen Eltern. Er wird dafür belohnt: Für „Cold War“ hat der Regisseur in diesem Jahr die Goldene Palme in Cannes gewonnen.
Es gibt Filme, von denen man sich berieseln lässt, die kurzzeitig fesseln – der große Nachhall aber bleibt im Anschluss aus. Und dann sind da noch die Filme, die so eindringlich sind und so tief unter die Oberfläche gehen, dass sie bleiben. Pawel Pawlikowskis Film „Cold War – Der Breitengrad der Liebe“ lässt sich eindeutig der zweiten Kategorie zuordnen. Am Ende der 89 Minuten verlässt man den Kinosaal, wird sanft begleitet von Bachs Goldberg-Variationen. Der Film aber lässt nicht los. Er hat Krallen.