Ginsterburg ist nicht klein; immerhin fährt hier eine Straßenbahn. Aber es ist auch nicht groß genug, als dass man sich lange aus dem Weg gehen könnte. Oder das etwas lange unbemerkt bliebe. Und auch in Ginsterburg, das ziemlich weit weg ist von der Reichshauptstadt, die aber nicht unerreichbar ist, hat die neue Zeit Einzug gehalten. Es ist 1935, das Leben der Menschen ist vordergründig das alte. Aber der Nationalsozialismus hat begonnen, sein Gift in sie zu träufeln.
Der Journalist und Schriftsteller Arno Frank ("Seemann vom Siebener") hat die fiktive Stadt Ginsterburg, die seinem neuen Roman auch den Titel verleiht, einer der vielen Kleinstädte nacherfunden, die während der Zeit des Nationalsozialismus langsam, aber sicher ihr Gesicht veränderten. Und es schließlich verloren: Miteinander, Anstand, Respekt, vielleicht sowieso fragil gebaut, weichen Misstrauen, Missgunst, Ausgrenzung. Das beschreibt Frank in seinem Roman über eine Zeitspanne von zehn Jahren, und zwar in Sprüngen: 1935, 1940 und 1945.
Er erzählt aus vielen unterschiedlichen Perspektiven. Da gibt es Lothar, 13 Jahre alt ist er 1935 und ein bisschen versponnen; interessiert sich für Schmetterlinge, aber auch fürs Fliegen. Seine verwitwete Mutter Merle ist Buchhändlerin und Genossin, nicht Volksgenossin. Und sie hat ein Auge auf den Feuilletonredakteur der Tageszeitung geworfen, Eugen von Wieland. Der schreibt auch schon mal bissige Glossen über Joseph Goebbels, was seiner linientreuen Frau Ursel nicht passt und seiner Tochter Gesine, die im Bund Deutscher Mädel mittut, noch weniger. Und dann ist da einer wie der Blumenhändler Otto Gürckel, der Karriere machen wird unter den neuen Machthabern als Kreisleiter.
Das latent Unheilvolle
Arno Frank erzählt farbenreich vom Alltag dieser und weiterer Ginsterburger, es blättert sich ein episches Panorama auf, das auch mal weitschweifig ist, aber durch die oft lakonische Sprache gebändigt wird. Und sowieso durch den Kniff, das Alltägliche mit dem Monströsen zu verknüpfen und so eine Ahnung davon durchscheinen zu lassen, was Hannah Arendt als Banalität des Bösen bezeichnet hat.
Da bekommen selbst Nebenfiguren durch einzelne Pinselstriche ein Gewicht, an dem man das latent Unheilvolle ablesen kann. So etwa, wenn es von dem Arzt Gustav Hansemann heißt, er könne sich seinem Hang zu "abwegigen medizinischen Experimenten" nun ausführlich widmen.
Da schreibt man schon das Jahr 1940, und das Böse ist überall und gut organisiert. Niemand kann sich mehr dem Regime entziehen: Es triumphieren die Mitläufer und Denunzianten. Merle muss aufpassen, sich nicht zu verplappern, Eugen schreibt das, was die Partei möchte; er ist immerhin zum Chefredakteur befördert worden. Die Jungen schwärmen glühend von der Zukunft: Lothar ist ein hoch dekorierter Kampfpilot bei der Luftwaffe und verlobt sich mit Gesine. Doch gleichzeitig scheint immer etwas von dem zarten, sensiblen Jungen durch, der er einst war: Er zweifelt. 1945 ist er dann verzweifelt. Die Welt und die Menschlichkeit liegen in Trümmern. So schnell kann es gehen.