Tookie hat Pech. Da will sie einer guten Freundin einen Gefallen tun, und dann landet sie im Gefängnis. Denn in den Achselhöhlen des toten Liebhabers der Freundin sind Drogen versteckt. Tookie, die die Leiche in einer slapstickreifen Aktion zu ihrer Freundin transportiert, ist reingelegt worden und wird zu 60 Jahren Haft verurteilt. Die Strafe fällt vielleicht auch deswegen so hoch aus, weil sie eine Indigene vom Stamm der Ojibwe ist und das US-Justizsystem nach wie vor rassistisch geprägt ist. Indigene und Schwarze sitzen nun mal häufiger und länger in US-amerikanischen Gefängnissen als Weiße.
Doch Tookie findet eine Überlebenshilfe. Es sind Bücher, Wörter, Sätze. Es ist einer von vielen wunderbaren Einfällen in Louise Erdrichs neuem Roman "Jahr der Wunder", dass das Wort für Strafe und Satz im Englischen gleichermaßen "sentence" lautet. Die US-Autorin und Pulitzerpreisträgerin gönnt ihrer Heldin nach diesem Intro dann einiges an Glück. Tookie wird nach zehn Jahren begnadigt und ist durch ihren Lesehunger extrem gut vorbereitet, um in einer auf indigene Literatur spezialiserten Buchhandlung zu arbeiten. Der Laden mit den so selbstbewussten wie lebenshungrigen Kolleginnen wird ihr Anker, und sie findet sogar noch einen zweiten. Sie heiratet den Stammespolizisten Pollux; den Mann, der sie einst verhaftet hat.
In "Jahr der Wunder" begleitet Erdrich Tookie zwölf Monate lang, lässt sie ihr Leben, das zwischen Unsicherheit, Impulsivität und Überschwang changiert, fast durchgehend aus der Ich-Perspektive schildern. Nachdem sich alles zunächst beruhigt hat, passiert plötzlich etwas Mysteriöses. Stammkundin Flora, die sich eine indigene Herkunft herbeifantasiert hat, stirbt. Und verfolgt Tookie als Geist. Dann bricht Corona aus, und George Floyd wird von Polizisten umgebracht, was wochenlange Unruhen nach sich zieht. Ist Tookie mit einem Fluch belegt?
Louise Erdrich ist eine grandiose Erzählerin. Sie schafft es, die warmherzige und oft komische Geschichte über Tookie und die Stärke ihrer kleinen Gemeinschaft zu kombinieren mit einem Panorama der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse im Jahr 2020. Dabei bedient sie sich des magischen Realismus, mit einem Geist, der ganz schön nervt. Doch er bringt Tookie auch in Verbindung mit den Riten ihrer Ahnen – und mit ihrer Vergangenheit als Tochter einer drogensüchtigen Mutter. Die ganze Zeit über ist es ihre Liebe zu Büchern, Sätzen, Wörtern, die Tookie letztlich im Gleichgewicht hält.