Es gab eine kleine christliche Szene am Tag der Vertrauensfrage im Bundestag. Berichten zufolge lief der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich durch den Sitzungssaal seiner Partei und verteilte Schokoladenweihnachtsmänner an die Presse, als Entschädigung für die Überstunden durch ausufernde Krisen-Sitzungen der Ampel-Regierung. Aber nach Mützenich wurde es dann immer unchristlicher und unweihnachtlicher.
In der Geschichte der Bundesrepublik ist die Vertrauensfrage bisher sechsmal gestellt worden. Den Anfang machte Willy Brandt 1972, dann stellten sie Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder tat es gleich zweimal. Und nun also Olaf Scholz, er ist der Erste, der sie stellen musste, weil er keine mehrheitsfähige Regierung mehr hat.
Scholz kam in seiner Rede nach zwei Minuten auf Christian Lindner zu sprechen, er sprach dem entlassenen Ex-Finanzminister die „sittliche Reife“ ab. Man kann sich so richtig vorstellen, wie die PR-Experten der SPD überlegten, was man statt „Königsmörder“ über Lindner sagen könnte. Und dann kamen sie auf die Idee, ihm die „sittliche Reife“ abzusprechen. Vielleicht stand auch die „Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann Pate, da macht sich der Schüler Rosen über den Lehrer lustig und der sagt: „Setzen Sie säch, Rosen, Ihnen fehlt die sättliche Reife.“ Lindner saß dann auch da auf seinem Platz, verzog keine Miene und brannte nach innen. Man spürte, wie er innerlich mordete. Lindner spielt eine Doppelrolle: Nach außen nahm er eine lutherische Haltung zur Schuldenbremse ein: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Eine Staatsverschuldung sei mit ihm, dem loyalen Staatsmann, nicht zu machen. Aber man sah auch, wie er auf der Oppositionsbank in Gedanken das Gift mischt.
Scholz spielte auch eine seltsame Doppelrolle. Er sprach plötzlich laut, forsch und schimpfte, vermutlich wollen die Politikberater mit einem neuen Scholz, der auf den Tisch haut, die Bundestagswahl doch noch irgendwie rocken. Aber wer ist dann der richtige Scholz? Der leise, zaghafte, den wir drei Jahre kaum gehört haben oder der polternde, aufbrausende, neue Scholz, der nicht einmal auf die Idee kam, beim Stellen der Vertrauensfrage auf eigene Fehler einzugehen, womit auch ihm die sittliche Reife fehlte.
Manchmal war seine Rede kaum zu verstehen, weil die Parlamentarier dazwischenriefen, vor allem Jens Spahn von der CDU krakelte permanent, er war wie der Schüler Rosen aus der „Feuerzangenbowle“, ebenfalls ohne „sättliche Reife“. Dann kam Friedrich Merz, der Kanzlerkandidat. Er kritisierte den Stil des Kanzlers, dem Ex-Finanzminister die sittlich Reife abzusprechen, das sei nicht der Umgang, den er sich im Parlament vorstelle. Toll, dachte ich, Merz will nun ganz Staatsmann sein. Plötzlich aber verwandelte er sich in eine geifernde, sauerländische Stammtisch-Furie, erzählte gemeine Anekdoten über Scholz, die er gehört hatte und erklärte, der Kanzler sei zum „Fremdschämen“, „Sie blamieren Deutschland!“ Abgesehen davon, dass nun auch Merz eine Doppelrolle spielte, war ihm ebenfalls die sittliche Reife abhandengekommen.
Plötzlich hatte ich eine große Sehnsucht nach Armin Laschet, das muss man sich mal vorstellen. Im Parlament schrien mittlerweile alle durcheinander, die SPD buhte, die CDU grölte, Spahn hämmerte wie ein Schwererziehbarer auf seine Oppositionsbank, Robert Habeck spielte zwischendurch noch so eine Art Joachim Gauck, einige von der AfD fletschten die Zähne, vielleicht war es auch nur ihr Grinsen.
Es war entsetzlich. Ich habe mir extra noch einmal die Debatte um die Vertrauensfrage von 2005 angesehen. Mein Gott, was wirkte das alles staatsmännisch: eine selbstkritische Rede von Schröder, im Parlament Müntefering, Schäuble, Struck, Eichel, die Frauen Merkel, Künast oder Schmidt, Westerwelle, Schily, Fischer – ich wurde immer nostalgischer. Welch Ruhe und Würde im Vergleich zu heute!
Mir fiel ein Satz von Ovid ein. „Vertrauen stellt sich bei Fragen großer Bedeutung nur langsam ein.“ Das kann man wohl sagen. Man müsste sich bis zum 23. Februar nun eigentlich die Augen und Ohren zu halten.