Vor ein paar Tagen zog ich meiner Tochter die Hausschuhe in der Kita an, wir sprachen dabei über Pippi Langstrumpf. Das riesige bronzene Pferd, das wir immer auf dem Weg in die Kita am Steubenplatz sehen, erinnert meine Tochter an das Pferd von Pippi. Oben drauf sitzt ein nackter Reiter mit einem Zweig, und meine Tochter wollte nun plötzlich anhalten, um Pferd und Reiter etwas anzuziehen, weil ja Winter ist.
„Das Pferd mit Reiter ist eine Fantasie des Bildhauers, der es erschaffen hat. In seiner Fantasie ist es ganz warm gewesen und die Fantasie war so stark, dass Pferd und Reiter sogar noch jetzt warm ist“, erklärte ich. Ich finde das eigentlich einen schönen Lobgesang auf die Kunst. „Die Fantasie kann nämlich alles. Pippi kann sogar in der Fantasie der Geschichtenerzählerin ihr Pferd hochheben!“, sagte ich in der Kita. „Wir könnten Pippis Geschichte mal wieder lesen. Es gibt sogar eine Pippi-Weihnachtsgeschichte.“
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Eine Mutter neben mir wies mich plötzlich darauf hin, dass „Pippi Langstrumpf“ mit der Genderpolitik nicht mehr vereinbar sei, weil die Frauen darin falsch dargestellt werden. Ich solle mich in einem öffentlichen Raum nicht diskriminierend äußern. „Oh“, antwortete ich und zog meiner Tochter schnell die Schuhe an.
Zu Hause las ich alleine „Pippi Langstrumpf“. Pippi hat ja übermenschliche Kräfte und kann noch tollere Dinge, als ihr Pferd hochheben. Sie lebt zusammen mit ihrem Affen in der Villa Kunterbunt und isst manchmal eine ganze Sahnetorte. Ihre Freundin Annika hingegen ist schüchtern, zaghaft, manchmal sehr ängstlich. Ich wette aber, meine Tochter mag beide: die Schüchterne, Zaghafte und die Starke, Mutige. Pippi Langstrumpfs Rollenwechsel leiste ein falsches Vorbild für „Transgression und queere Identität“, las ich nun in einer Gender-Studie, und Annikas Darstellung wäre „frauenfeindlich“.
Wie weit darf die Verflechtung von Wirtschaft und Politik gehen?
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich beim Schuhe-Anziehen meiner Tochter ganz andere Dinge im Kopf, zum Beispiel meine nächste Kolumne. Ich wollte hier noch einmal die moralische Integrität des neuen kommenden Schattenministers der amerikanischen Regierung beleuchten. Die jüngsten Ereignisse um Elon Musk, der sich dank eines sprunghaft gestiegenen Kurses seiner Tesla-Aktie ein gigantisches Vergütungspaket auszahlen lassen will, werfen ja einige Fragen auf. Der Wert der Aktie stieg nämlich genau dann an, als Musk seine offene finanzielle Unterstützung für Trump angekündigt hatte. Wie weit darf also die Verflechtung und Wirtschaft und Politik überhaupt gehen? Allerdings bin ich jetzt mit der „falschen Transgression und Identität“ bei „Pippi Langstrumpf“ beschäftigt.
Ich nahm mir vor, am nächsten Tag Folgendes zu der Mutter beim Schuhe-Anziehen zu sagen: „Guten Morgen! Donald Trump zahlt Schweigegeld an Pornodarstellerinnen, beruft Minister, denen sexuelle Gewalt vorgeworfen wird, und wird trotzdem von Millionen gefeiert. Wenn es ein paar mehr Pippi Langstrumpfs in Amerika gäbe, dann würde es so ein groteskes Auslaufmodell wahrscheinlich gar nicht mehr geben.“
Die Mutter war aber nicht da, vielleicht hatte ihr Kind Husten. „Wir sollten uns mal weniger mit diesen Pippi-Fragen aufhalten, sondern wieder ans Große und Ganze denken“, hätte ich gern noch gesagt. „Oder lassen Sie uns zusammen auf die Insel Borkum fahren, da gibt es auch viel zu tun.“
Die Borkumerinnen sollten Pippi lesen
In den heiligen Nikolausnächten auf Borkum ziehen ja Männer los und verprügeln Frauen tatsächlich mit Kuhhörner, das ging gerade durch die Presse. Das Ganze wird als folkloristische Tradition verkauft und manche Frauen protestierten auf Borkum sogar für das Beibehalten der Tradition. Wenn die Frauen auf Borkum alle Pippi Langstrumpf gelesen hätten, dann würden sie sich bestimmt nicht mit Kuhhörnern verhauen lassen.
Die Aufklärung hat uns gelehrt, Moral rational zu begründen, unabhängig von Tradition, Religion, Politik oder Wirtschaft. Doch die Moral hat sich offenbar in die allerkälteste Effizienz verwandelt: Wirtschaftliches Wachstum zählt nun – siehe Amerika – ganz unverhohlen mehr als ethische Verantwortung. Und kulturell e, kleinkarierte Identitätskämpfe in der Kita oft mehr als wahre Gleichberechtigung. So weit mein strenges Wort zum Tag nach Nikolaus.