Dieser Tage erhielt ich einen Brief einer Leserin. Es sind überhaupt immer wieder gedankenvolle, schöne Briefe, die ich erhalte und für die ich mich gar nicht immer gebührend bedanken kann. Einmal kam ein Brief eines Lesers, der sich in seiner Jugend auf dem Hemelinger Schulhof offenbar in meine Mutter verliebt hatte. Und nun wissen wollte, ob der Kolumnist, dessen Bild Ähnlichkeiten mit der Mutter aufweise, tatsächlich der Sohn der damals so Verehrten sei. Bin ich!
Doch nun zu jenem anderen Brief. Sie könne nicht erkennen, schrieb mir die Leserin, dass ich mich in der Osterkolumne eindeutig für die Position von Herrn Mützenich entschieden habe. Zur Erinnerung: Es ging hier um den SPD-Fraktionsvorsitzenden, der in einer Rede zum Thema Waffenlieferungen an die Ukraine gesagt hatte, „dass wir nicht nur darüber reden sollten, wie man einen Krieg führt, sondern auch, wie man ihn beendet.“ Wie man den Krieg „einfrieren“ könnte. Und ich hatte geschrieben, dass ich nach Mützenichs Rede selbst hin und her gerissen sei, ob man diesen Krieg tatsächlich einfach so einfrieren könne. Das Herz sagte, ja, unbedingt; der Verstand jedoch sagte: Aber wie? Und was würde das für ein Frieden sein?
Anne Biermann-Asseln, so heißt die Leserin, schreibt weiter in ihrem Brief, dass ihr Vater, geboren 1925, noch im Krieg gekämpft habe. Dass er erfahren habe, wie das Leben von Menschen im Krieg betrachtet werde, „nicht so viel wert wie eine Briefmarke“. (Ich dachte auch sofort an die Menschen im Gaza-Streifen!). Und dass es schade sei, so die Leserin weiter, dass ich mich nicht eindeutig auf die Seite UN-Generalsekretär Antonio Guterres gestellt hätte, die sich für eine Verhandlungslösung ausgesprochen hätte.
Nun möchte ich der Leserin entgegnen, dass man ja immer nur verhandeln kann, wenn jemand von den Kriegsparteien verhandeln will. Und welche „Lösung“ sollten Verhandlungen ergeben, wenn selbst der UN-Generalsekretär einen Frieden verlangt, der auf der Charta der Vereinten Nationen und dem Völkerrecht basiert?
Als mich der Brief erreichte, hatte gerade der bedeutende Historiker Heinrich-August Winkler ebenfalls einen Brief geschrieben, nicht an mich, sondern an die SPD, zutiefst besorgt über deren unklare Haltung zu Putins „neoimperialem Russland“. Kanzler Scholz habe erklärt, so hieß es in Winklers Brief, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren, doch die Äußerungen der Parteiführung ließen jedoch die „nötige Klarheit“ vermissen, die daraus folgen müsste.
Als besonders fatal wurden in dem Historiker-Brief die Äußerungen von Mützenich empfunden und seinen Worten vom „Einfrieren“ des Ukraine-Krieges, „was faktisch eine Beendigung zugunsten des Angreifers bedeuten würde“. Die unter dem Schlagwort „Friedenspartei“ verfolgte Politik operiere zudem mit „einem kurzsichtigen Friedensbegriff“, der die Drohungen Russlands, weitere europäische Länder anzugreifen, ignoriere.
Vielleicht ist das genau der Punkt: Unser „kurzsichtiger Friedensbegriff“. Frau Biermann-Asseln, die selbst im Friedensforum Bremen aktiv ist, hatte mir noch erklärt, dass sich der Westen nicht an den „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ von 1990 gehalten und entgegen der (wohl nur mündlichen) Absprachen die Osterweiterung der NATO vorangetrieben hätte, aber ist das der wahre Grund für Putins Krieg? Oder eher doch seine Auffassung, dass es keine ukrainische Nation geben dürfe, sondern nur eine große russische? Putin versuche mit Macht, „die Geschichte zu überschreiben, indem er sich als Peter der Große inszeniert“, so beschreibt es der Russland-Experte Mark Galeotti.
Was ich also der Leserin sagen will: Ich gebe zu, dass mir mein alter, nicht zuletzt durch meine Mutter vererbter Friedensbegriff selbst abhandengekommen ist; dass ich mir in dieser, sagen wir, neuen Rationalität, selbst fremd vorkomme. Aber bräuchte die Ukraine, wenn man Frieden will – und zwar einen möglichst gerechten – nicht erst einmal die volle Unterstützung? Wenn der Krieg jetzt „eingefroren“ werden würde, dann bekäme Putin am Verhandlungstisch vermutlich die ukrainische Kapitulationsurkunde ausgehändigt. Aber wofür hätten sich dann all diese mutigen Ukrainer verteidigt? Und was passiert dann als nächstes, wenn Putin weiter die Geschichte überschreiben will?