Gustav schnuppert versonnen an einem Korb, Mona versucht hingebungsvoll, die Verpackung der Leckerlis aufzureißen, und Pola bleibt derweil stille Beobachterin. Alle drei sind Bewohner des Katzenhauses im Hamburger Tierheim an der Süderstraße und alle drei scheinen sich herzlich wenig für das zu interessieren, was ihnen Erika Lemmel gerade vorliest. Die 69-Jährige ist seit einigen Wochen eine der ersten Katzen-Vorleserinnen. Ein Trend, der sich rasant in deutschen Tierheimen ausbreitet.
Irgendwie haben die Tierheime so was schon länger gemacht. Es gab Katzenkuschler und -krauler – Ehrenamtliche, die etwas verunsicherten oder gelangweilten Tieren die Zeit vertreiben, mit ihnen schmusen und spielen. Sie springen da ein, wo den Tierpflegern die Zeit fehlt, sich mit den Tieren zu beschäftigen.
Der Trend kommt – wie könnte es anders sein? – aus den USA, berichtet das Portal für Freiwilligenarbeit, Volunation. Dort sind die „book-buddies“ („Bücher-Kumpel“) schon seit dem Jahr 2013 aktiv. Das Vorlesen sei besonders geeignet für Leseanfänger im Grundschulalter. Die private Tufts-University bei Boston habe herausgefunden, dass Schüler, die sich als freiwillige Katzenvorleser engagierten, schneller und besser lesen lernten, hieß es. In vielen deutschen Tierheimen gibt es sie jetzt ebenfalls schon, zum Beispiel in München. Dort wirbt die Initiative „Kids4Cats“ um die kleinen Katzenvorleser. Mit Kindern arbeiten auch Tierheime in Aschaffenburg, Nördlingen oder Marburg. In anderen Tierheimen wie Köln, Krefeld oder eben Hamburg sind Erwachsene als „Katzen-Gesellschafterinnen“ gefragt. Erika Lemmel ist die Frau für die schweren Fälle. Die Katzen wurden misshandelt oder von der Polizei oder Tierschützern aus Messie-Wohnungen geholt, in denen sich ihre einzige menschliche Bezugsperson praktisch nicht um sie gekümmert hat.
„Erst haben die sich alle versteckt, waren ängstlich“, sagt Lemmel über Gustav, Mona und Pola. Lemmel liest ihnen seit März einmal pro Woche etwas vor. Jetzt kommen sie schon mal an die Vorleserin heran und schnuppern, ein Erfolg. „Ich versuche, die Katzen wieder an den Menschen, an eine menschliche Stimme zu gewöhnen.“
„Derzeit haben wir sechs bis acht ehrenamtliche Vorleserinnen“, sagt Hannelore Hischer, die Leiterin der Katzenhäuser im Hamburger Tierheim. Sie sollten gelassen sein, Katzen-erfahren, über 18 Jahre alt und mit Tetanus-Impfschutz. Denn hier gehe es vor allem um Problemkatzen, also „nicht die halbverwilderten Katzen, sondern um die Tiere, die sich nicht anfassen lassen“. Letztlich hat die Aktion auch einen ganz praktischen Aspekt: Umgängliche Katzen sind besser vermittelbar. Ein wichtiger Punkt in einem Tierheim, in dem jedes Jahr um die 2000 Katzen abgegeben werden.
„Die Idee gefällt mir“, sagt die Münchner Tierärztin Dorothea Döring, die auf Verhaltenstherapie spezialisiert ist. „Scheue und traumatisierte Katzen profitieren mit hoher Wahrscheinlichkeit davon. Sie gewöhnen sich an Anwesenheit, Geruch und Stimme von Menschen, ohne bedrängt zu werden.“ Denn in der Regel würden Menschen, die sich Katzen nähern, bedrohliche Signale aussenden, wie In-die-Augen-schauen, Hand ausstrecken, über die Katze beugen und so weiter. „Ein vorlesender Mensch sitzt, schaut ins Buch und verhält sich ruhig. Das ist vertrauenerweckend aus Sicht einer Katze.“ In schweren Fällen sei aber zusätzlich Verhaltenstherapie zu empfehlen.
Erika Lemmel liest heute aus „Bob der Streuner“, in dem es um einen Straßenkater aus London geht. Der ersten Katze sind die Augen zugefallen. „So, hört mal zu, die Geschichte geht weiter“, sagt Lemmel lachend, aber eine halbe Stunde später klappt sie das Buch leise zu. „Nach zwölf hat das keinen Zweck, dann wollen die Katzen schlafen.“