Hagen. Und plötzlich ging nichts mehr. Gescheitert an einem Liter Milch und etwas Joghurt, so stand er da. Ein kalter Tag im April, irgendwo im Bremer Stadtteil Schwachhausen. Dabei waren es doch nur lächerliche 100 Meter, die Marlo Burdorf gehen musste. 100 Meter zu Fuß. So, wie er es schon Hunderte Male getan hatte in seinem Leben. Von der Wohnung zum Supermarkt um die Ecke. Doch in diesem Moment ging nichts mehr. Und Burdorf wusste: Ich muss krank sein, schwer krank. Da stimmt etwas nicht mit mir und meinem Körper. Doch was das sein konnte, war ihm ein Rätsel.
Die Geschichte, die Marlo Burdorf zu erzählen hat, könnte die Geschichte von sehr vielen Menschen sein. Eine Geschichte, die mit einer relativ unspektakulären Corona-Erkrankung bei einem vollkommen gesunden Sportler seinen Anfang nimmt – und plötzlich völlig aus dem Ruder läuft. Ungewollt und unbemerkt. Allerdings bei einem Fußballer, der auf dem Platz wohl wie kein Zweiter für physische und auch mentale Stärke steht. Man könnte sagen, Marlo Burdorf ist einer, der über jeden Zweifel erhaben ist, als empfindliches Weichei oder gar als Simulant abgetan zu werden. Acht Monate ist es her, dass der durchtrainierte Modellathlet in etwas abrutschte, von dem er heute weiß, dass es vermutlich auch in einer handfesten Depression hätte enden können.
Dass es nicht dazu kam, lag an dem nahezu perfekten Netzwerk, in das der 32-Jährige fiel. Ein Netzwerk aus familiären und freundschaftlichen Fäden, gepaart mit professioneller Hilfe. "Als ich mich meiner Umwelt komplett geöffnet und ganz offen darüber geredet habe, wie schlecht es mir zwischenzeitlich ging, da war ich regelrecht geschockt, wie viele Menschen ähnliche Probleme zu haben scheinen. Wie viele Menschen jemanden in ihrem direkten Umfeld kennen, dem es mit sehr gleichen Symptomen ebenso schlecht geht." So reifte die Überlegung, seine Geschichte zu erzählen, sich einer größeren Masse zu öffnen. Denn Burdorf hat sich lange gesträubt gegen das, was ihm widerfahren ist: "Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass mir so etwas passieren kann. Mir ging es doch immer total gut."
Angefangen hatte alles Anfang April. Marlo Burdorf war – wie so viele andere auch zu dieser Zeit – an Corona erkrankt. "Ein Tag Schüttelfrost und Fieber, aber ansonsten alles gut auszuhalten", erinnert er sich. Nach acht Tagen testete er sich frei, am 10. April stand das Oberliga-Auswärtsspiel seines FC Hagen/Uthlede in Göttingen an. Nach 18 Minuten ließ sich Burdorf auswechseln, mit starken Schwindelgefühlen und heftigem Unwohlsein. In der Woche danach wollte der Hagener Kapitän wieder normal trainieren, doch irgendwas stimmte da nicht. "Ich musste nach 20 Minuten erneut abbrechen", erinnert sich Burdorf.
Die Sorge war sehr schnell sehr groß, denn so etwas kannte er nicht von sich. Er war immer derjenige, der voranging, der sich in den Dienst der Mannschaft stellte, auch gerne mal eine Verletzung ignorierte oder stattdessen eine Schmerztablette einwarf, falls auch das Ignorieren nicht mehr half. Aber Aufgeben? Auf gar keinen Fall. Doch nicht er. Nicht der wegen seiner Tugenden in der ganzen Fußballszene geschätzte, ja, zum Teil gar verehrte Fußballkrieger. Und es war doch auch alles super. "Mein familiäres Umfeld war top, mein Freundeskreis auch, mein Job, alles absolut top", erinnert sich Burdorf. Ein Leben, auf das man von außen betrachtet durchaus neidisch sein könnte. Oder etwa doch nicht?
Burdorf saß plötzlich in seiner Schwachhauser Wohnung auf der Couch und kämpfte mit Schwindelgefühlen. Mit Herzrasen. Mit Panikattacken. "Wenn ich versucht habe, joggen zu gehen, musste ich nach kürzester Zeit abbrechen, es ging einfach nicht." Stattdessen wurden die Symptome mehr und mehr zu einem Permanentzustand und ständigem Begleiter. "Wenn ich morgens aufgewacht bin, dann war mein erster Gedanke irgendwann nur noch, ob die Schwindelgefühle noch da sind. Ich stand manchmal ewig vor dem Spiegel und habe mich nur noch darauf konzentriert, ob und wie stark mir schwindelig ist. Mein ganzer Körper war nur noch auf diesen Schwindel fokussiert"
Eine Erklärung, warum es ihm so schlecht ging, hatte er nicht. Dafür die absolute Überzeugung, dass irgendetwas mit seinem Körper nicht stimmen konnte, stimmen musste. Was sollte es sonst sein? Vielleicht ein psychisches Problem? Irgendetwas, dass sich in seinem Kopf abspielte? Lächerlich. Und doch stand er nun, an diesem kalten Apriltag, vor seiner Wohnung und war nicht in der Lage, einen Liter Milch und etwas Joghurt zu besorgen. "Es war eine absolute Höllenqual", erinnert sich Marlo Burdorf an den vorläufigen Tiefpunkt seiner Geschichte, die am Ostermontag schließlich eskalieren sollte.
Als der damals 31-Jährige an diesem Morgen erwachte, fühlte er sich noch etwas schlechter als sonst schon. "Es ging mir richtig scheiße", erinnert sich Marlo Burdorf. So schlecht, dass er sich mit seiner Lebensgefährtin Carina auf den Weg ins Krankenhaus machte – Verdacht auf Herzinfarkt. Fast fühlte er eine Art Erleichterung. Das musste es sein. Endlich wusste er, was bei ihm los war. Es war doch alles keine Einbildung. Im Krankenhaus wurde der müde Krieger komplett auf den Kopf gestellt. Blut- und Laborwerte wurden überprüft, ein EKG erstellt, zudem die Lungenfunktion gecheckt, schließlich hatte Burdorf erst vor Kurzem eine Corona-Erkrankung. Und dann kam die große Überraschung.
"Es war absolut unglaublich, aber ich hatte ausschließlich Topwerte. Ganz egal, was dort untersucht wurde, es waren die Ergebnisse eines kerngesunden und topfitten Menschen", berichtet Burdorf. Doch statt sich zu freuen, zweifelte er die Resultate an. "Es ging mir ja schließlich immer noch schlecht. Das konnte ja gar nicht stimmen, was die im Krankenhaus ermittelt hatten." Also schleppte er sich nach Hause und setzte sich an den Computer. Jetzt half endgültig nur noch eine Selbstdiagnose. Panikattacken, Long-Covid, Schwindelgefühle – all diese Worte tippte Burdorf bei Google in die Suchmaske ein – und tauchte ab. In eine virtuelle Welt voller Ängste, voll semi-professioneller Diagnosen und Empfehlungen. Zehn Stunden suchte er nach einer Erklärung, die er natürlich nicht fand. Dafür ganz viele neue Ansätze, die es zu verfolgen galt.
Ein weiterer Besuch beim Hausarzt war nicht zielführend, bei seiner Osteopathin ließ er seine Wirbelsäule checken, ohne Erfolg. Dann holte er sich einen Termin beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Wieder nichts. Anschließend ging es noch zum Augenarzt. Keine Verbesserung, im Gegenteil. Überall hörte Marlo Burdorf das, was er zu diesem Zeitpunkt gar nicht hören wollte. Dass er kerngesund sei. Dass er doch eigentlich froh sein sollte. "Aber das war ich nicht. Ich war ja krank", erinnert er sich. Doch es passte alles längst nicht mehr zusammen.
Burdorf zwang sich, zur Arbeit zu fahren, denn wenn er den ganzen Tag auf der heimischen Couch verbrachte, fühlte er sich am Ende nur noch schlechter. Lediglich zwei Tage ließ er sich krankschreiben, ansonsten funktionierte er halt einfach. Tagein, tagaus. Schmerztablette rein, ab zur Arbeit, nachmittags wieder nach Hause. Einmal bekam er auf dem Weg zur Arbeit eine Panikattacke, musste anhalten und rechts ranfahren, um sich wieder zu sammeln. "Und trotzdem konnte ich es nicht zulassen, dass das vielleicht gar nichts Körperliches, sondern was Psychisches war. Irgendwas, das von meinem Gehirn gesteuert wurde." Aber akzeptabel war dieser Gedanke nach wie vor nicht. Marlo Burdorf und Kopfprobleme? Absolut lachhaft.
Doch es kamen erst Zweifel. Denn offenbar war es möglich, die Schmerzen zu verdrängen beziehungsweise die Probleme zu betäuben. Zwar nur kurzfristig, aber es fühlte sich gut an. Die Schmerztabletten halfen, aber was noch etwas besser funktionierte, waren zwei oder drei Hefeweizen. Und das machte Burdorf stutzig. "Wenn ich was getrunken hatte, war ich locker im Kopf. Dann war ich gefühlt wieder der Alte", erinnert er sich, wohl wissend, dass er in diesen Momenten natürlich nicht ein geheilter Krieger war, sondern ein angetrunkener.
Die Suche nach einer echten Heilung ging also weiter – und führte über einen weiteren Besuch beim Hausarzt schließlich zu der Erkenntnis, mal mit jemanden sehr intensiv über alles reden zu müssen. Es war der Moment, an dem Marlo Burdorf einen Rettungsanker werfen konnte, der unmittelbaren Halt gab. Denn seit vielen Jahren schon hatte er eine ausgesprochen vertrauensvolle Verbindung zu seiner Heilpraktikerin für Physiotherapie gehabt, die gleichzeitig eine Ausbildung als psychologische Beraterin hat. Am 12. Mai saß Burdorf also bei Heidi Albert – und öffnete sich zum ersten Mal auf eine höchst persönliche und emotionale Art und Weise. Anschließend ging er mit einem großen Glücksgefühl und noch größerer Erleichterung nach Hause.