Landkreis Diepholz. Das Urteil hat hohe Wellen geschlagen: Hartz-IV-Empfänger über 25 Jahre dürfen nicht mit mehr als 30 Prozent sanktioniert, wenn sie nicht dabei helfen, Arbeit zu finden. Das hat das Bundesverfassungsgericht jüngst entschieden. Damit wird sich in Zukunft auch das Vorgehen der Jobcenter im Landkreis Diepholz ändern.
Eine inhaltliche Bewertung könne er noch nicht vornehmen, sagt Daniel Bestvater, Sprecher der Arbeitsagentur Nienburg-Verden. Sein erstes Fazit: „Man muss an keinem Punkt der Entscheidung Kritik üben.“ Die Behörde habe klar gesagt, dass sich an der aktuellen Praxis etwas ändern müsse. Überrascht habe das Urteil deshalb auch nicht, da absehbar gewesen sei, dass da etwas kommen würde.
Im Juni 2019 gab es im Landkreis Diepholz 7889 erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Das sind alle Personen, die mindestens 16 Jahre alt, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind. Bestvater zufolge waren davon 218 sanktioniert, wobei 130 Sanktionen neu festgestellt wurden. Wie viele von dem Urteil betroffen sind, konnte er noch nicht sagen. Diese Daten müssten noch ausgewertet werden. Bestvater stellt auch klar, dass bundesweit nur rund zehn Prozent der Hartz-IV-Empfänger im Laufe eines Jahres sanktioniert würden, weil sie etwa einen Termin verpasst haben. Und selbst dann gebe es noch die Möglichkeit, das in einem Schreiben zu begründen und so eine Sanktion abzuwenden.
Aufgabe der Arbeitsagentur beziehungsweise der Jobcenter sei, die Kunden – wie die Leistungsempfänger genannt werden – zu unterstützen, eine Position am Arbeitsmarkt zu finden. „Es ist nicht toll, Sanktionen auszusprechen, aber manchmal geht es nicht anders, wenn nicht mitgemacht wird“, sagt er. Nun sei der Gesetzgeber gefragt, dafür einen Rahmen festzulegen. Das betreffe auch Aufstocker, die nach dem Regelsatz sanktioniert würden, obwohl sie gar nicht die volle Summe ausgezahlt bekämen. So könnte bei einer 30-Prozent-Sanktion im ungünstigsten Fall die Zahlung komplett eingestellt werden.
Drohender Wohnungsverlust
Auch das Team der Caritas in den Landkreisen Diepholz und Nienburg – links der Weser unterstützt Hartz-IV-Empfänger in verschiedenen Belangen. „Wir erleben das durchaus auch, dass sie sanktioniert werden“, sagt Geschäftsführerin Karin Kröger – auch bei unter 25-Jährigen. Sie werden schneller sanktioniert als über 25-Jährige und sind im Urteilsspruch nicht erwähnt. Insbesondere die 100-prozentige Sanktionierung treffe sie hart, wenn keine Miete und Nebenkosten mehr bezahlt würden und es noch Lebensmittelkarten gebe. „Sie sind dann auch nicht krankenversichert und es droht der Wohnungsverlust“, merkt Kröger an.
Wichtig sei gerade bei den Jugendlichen, dass sie Hilfe erhielten und nicht sanktioniert würden. „Das führt nicht dazu, dass es Wirkung zeigt“, sagt Kröger. Die Sanktionierungen könnten höchstens nutzen, um eine Mitwirkung einzufordern. „Aber mit 100 Prozent ist das zu viel“, betont sie, „das ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.“ Deswegen sei auch eine Einzelfallprüfung unerlässlich, bevor solche Entscheidungen getroffen würden. Für problematisch halte sie auch die starre Festlegung von drei Monaten, die das Bundesverfassungsgericht nun ebenfalls gekippt hat. Erwerbslosen-Organisationen wie der Verein Tacheles sprechen sich dafür aus, Sanktionen gänzlich abzuschaffen.
Krögers größtes Anliegen für eine geänderte Verfahrensweise: „Die Sanktion darf nicht zum Wohnungsverlust führen. Das kann nicht Sinn und Zweck sein.“ Denn ein Stopp der Miet- und Nebenkostenzahlungen führe bei Hartz-IV-Empfängern häufig in eine Schuldenfalle. „Die Menschen leben ohnehin am Rande des Existenzminimums. Sie können keine Rücklagen bilden“, sagt sie.