Herr Bullerdiek, Ihr zweiter Gedichtband heißt: "Hat dich die Liebe gesättigt?" Diese Frage würde ich Ihnen gerne stellen. Hat Sie die Liebe gesättigt?
Wolfgang Bullerdiek: Das ist eine Zeile aus einem Gedicht. Den Titel hat der Verleger ausgewählt.
Der Titel ist also gar nicht von Ihnen?
Die Zeile stammt aus dem Gedicht "Das Lied aus der Quelle": ‚Und wen hat sie wirklich gesättigt, die Liebe‘.
Welchen Titel hätten Sie denn dem Buch gegeben?
Das ist schwierig. Über dem Buch liegt eine Depressivität, eine Traurigkeit. Ich habe lange darüber nachgedacht. Mir ist aber kein Titel eingefallen. Auch weil das Buch in die Abschnitte Identität, Alter und Tod und zuletzt Zukunft und Hoffnung zerfällt. Der Titel ist aber in Ordnung.
Wo Sie die Unterteilung des Buches ansprechen: Der Teil über Alter und Tod ist eindeutig am längsten. In einem Gedicht beschrieben Sie ihn als absolute Leere. In einem anderen beschreiben Sie den Tod als etwas Befreiendes. Was ist der Tod für Sie?
Der Tod ist etwas Endgültiges. Aber das kann man auch doppelt sehen. Das ist einmal ein Ende von Schmerzen, aber auch von allen vergeblichen Hoffnungen. Es ist kompliziert mit dem Tod. Man muss dazu sagen, dass nach meiner Pensionierung mein eigentliches Leben erst angefangen hat. Weil man nicht lebt, muss man nicht tot sein. Man kann auch leben und doch tot sein.
Also war die Arbeitszeit eine „Zeit des Todes“?
Nein, in dieser Zeit habe ich auch viel Wertvolles und Anregendes erlebt, aber sie war eben weitgehend keine Zeit der Selbstverwirklichung, des Dichtens, des Schreibens meiner eigentlichen Gedanken. Ich hatte schließlich auch andere Themen zu beackern.
Haben Sie denn Angst vor dem Tod?
Vor dem Sterben schon. Sonst nicht. Ich glaube nicht, dass da noch etwas kommt. Wichtig ist dabei aber auch, dass ich das Kriegsende mit sechs Jahren miterlebt habe. Das habe ich noch ziemlich gut vor Augen. Da saßen wir im Bunker. Und mit vier Jahren wurde ich verschüttet, als ich in Bochum bei meinen Großeltern war. Da habe ich aber nur undeutliche Erinnerungen.
Das heißt, der Tod begleitet Sie schon Ihr ganzes Leben?
Ich habe noch nie so viele Tote gesehen, wie am Anfang meines Lebens. Ich habe erlebt, wie ein amerikanischer Soldat ein Mädchen erschossen hat, weil es außerhalb der Sperrzeit unterwegs war. Das war schrecklich. Keine fröhlichen Gefühle.
In der Einleitung schreiben Sie: „Vielleicht finden sich ‚Altersgenossen‘ in einigen meiner hoffentlich nicht schon zu verbrauchten Gedanken am ehesten wieder.“ Ist der Gedichtband für alte Menschen gedacht?
Nein, ich hoffe nicht.
Was können die jungen Menschen darin lesen?
Junge Menschen beschäftigen sich ja auch mit dem Tod. Außerdem hoffe ich, dass die jungen Menschen etwas finden in den nachdenklichen und ironischen Gedichten und dort, wo ich das Thema Nationalsozialismus berühre.
In Ihren Gedichten zum Alter und Tod fließt auch viel aus der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus mit ein?
Ja. Die Auseinandersetzung mit den Älteren, mit meinem Vater, der war nur Mitläufer, aber später zu keiner Korrektur fähig. Wie viele oder die meisten aus seiner Generation. So gab es eben auch kein gutes Verhältnis zu ihm.
Wann haben Sie mit dem Schreiben von Gedichten angefangen?
Damit habe ich so mit 15 oder 16 angefangen. Ich habe viele Niederlagen subjektiv empfunden in den ersten Lebensjahren. Auch in der Schule. Die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium zum Beispiel. Die hat nicht geklappt. Das war traumatisch. Gegenüber den Gleichaltrigen war ich nie stark genug.
Sie haben Gedichte also auch immer schon als Weg der Verarbeitung genutzt?
Ja. Ich habe aber auch einem Mädchen in der Klasse ein Liebesgedicht geschrieben und ihr in die Tasche gesteckt. Sie war der Star der Klasse. Und wir haben immer noch Kontakt. Bis dahin haben sich die Mädchen nie für mich interessiert.
Haben Sie die Inspiration immer aus Rückschlägen genommen?
Sehr stark, ja, um zu bewältigen. Teilweise aber auch schöne Erinnerungen oder Beobachtungen. Auch aus der Musik. Mit 14 habe ich angefangen, mich mit sogenannter klassischer Musik zu befassen.
Ein Gedicht handelt von Musik, eines der hoffnungsvolleren. Gibt Ihnen Musik Hoffnung?
Vor allem hoffe ich, dass Musik weiterhin gehört wird. Das Gedicht habe ich nach der siebten Sinfonie von Bruckner geschrieben.
Was gibt Ihnen außer Musik Hoffnung?
Im Moment habe ich eigentlich wenig Hoffnung für die Menschheit. Die ganzen Versuche, die notwendige Umkehr zu betreiben, und zwar sozial gerecht, da habe ich wenig Hoffnung. Ich wurde immer sehr enttäuscht. Ich habe mich immer von der politischen Rechten distanziert. Die linken Parteien und kommunistischen Gruppen an der Universität haben mich aber auch immer wieder enttäuscht. Die Menschen wollen oder können sich nicht so grundlegend verändern.
Ist Ihre Arbeit als Soziologe in die Gedichte mit eingeflossen?
Ich glaube, durch die Soziologie habe ich gelernt und trainiert, verschiedene Perspektiven neben der eigenen zu sehen und auszuhalten. In meiner Arbeit habe ich immer wieder Gruppen von Straftätern betreut. Das hat mich bestimmt beeinflusst, im Negativen. Aber mir ist das bewusst, dass ich ungerecht bin. Auch gegenüber meinen Eltern. Weil mir auch viel Gutes widerfahren ist. Insofern muss ich Ihre erste Frage anders beantworten: Die Liebe hat mich nicht gesättigt. Ich habe das Gefühl, dass ich zu wenig liebe.
Auch Sie sich selbst?
Ja. Man bekommt vielleicht nur die Liebe zurück, die man selbst gibt.
Zurück zum aktuellen Buch. Haben Sie ein Lieblingsgedicht in dem Buch?
Das mit der Musik. Aber eigentlich habe ich einige. "Das Lied von der Quelle" habe ich auch gerne.
Das ist ein hoffnungsvolles Gedicht. Dann tragen Sie vielleicht doch mehr Hoffnung in sich, als Sie denken.
Zumindest so lange ich noch Musik hören kann. Ich hoffe, dass ich das noch lange kann.
Sie haben vorhin gesagt, dass Sie die Hoffnung an die Menschheit aufgegeben haben. Gibt es etwas, was das ändern könnte?
Ich glaube so ganz plakativ, dass die Menschheit aussterben wird, gerade, wenn weiter so viele Waffen eingesetzt werden, eben auch die ganz modernen und effektiven.
Eine letzte Frage noch: Schreiben Sie noch weiter?
Ja, ich hoffe, dass ich bis zum Schluss schreiben kann, aber nicht unbedingt für die Öffentlichkeit. Erst neulich habe ich ein Gedicht geschrieben, nachdem ich hier durch den Garten marschiert bin. Meine Frau meint, das sei etwas Positives. Die Natur erleben, das ist ganz wichtig und das ist positiv.